Typisch Marthaler: In seiner neuesten Produktion am Theater Basel sucht der Regisseur «Das Weisse vom Ei» und dekonstruiert mit viel Klamauk die kleinbürgerliche Kommunikation in Stresssituationen – in diesem Fall bei der Heiratsanbahnung.
Ein bisschen Rätselraten ist immer dabei, wenn man den Figuren Christoph Marthalers auf der Bühne beim Scheitern zusieht. Schon der Titel wirft meist mehr Fragen auf, als dass er Antworten liefert. Im jüngsten Fall lautet er: «Das Weisse vom Ei (Une ile flottante)».
Gemeint ist eine in Frankreich beliebte Süssspeise, bei der gezuckerter Eischnee in Vanillesauce badet – für Marthaler und seinen Dramaturgen Malte Ubenauf das «Sinnbild für jene Kombination von Verheissung und Enttäuschung, die alle Leidenschaft im Kern zusammenhält». Ein «übersüsses Nichts», bei dem von vornherein ausgespart ist, was man eigentlich aufzufinden erhofft: das Gelbe vom Ei.
Doch was ist im Leben eigentlich das Gelbe vom Ei? Nach diesem Abend steht zumindest fest: Die Ehe ist es nicht. Auch wenn Emmeline (bewundernswert stoisch: Carina Braunschmidt) und Frédéric (herrlich steif: Raphael Clamer) noch so schmachtend die Namen des jeweils anderen in den Raum hauchen. Substantielles ist von den beiden Jungen, die mehr Sohn und Tochter sind als eigenständige Personen, ohnehin nicht zu vernehmen. Dabei ist die Anbahnung einer Ehe zwischen diesen Beiden der Plot der Geschichte.
Mordende Onkel, alleinerbende Tanten
Marthaler hat sich dabei frei beim französischen Schriftsteller Eugène Labiche (1815–1888) bedient, der in seinen Komödien die Ingredienzien der bürgerlichen Ehe des 19. Jahrhunderts freilegt. Die Zutaten sind mannigfaltig und symbiotisch verbunden – und gelten noch heute: Liebe, Hass, Abhängigkeit, Milieu, Konventionen, Schein, Verrat, Verachtung, Erwartung, Enttäuschung. Hinzu kommen die subtilen Mechanismen der Ein-Kind-Familie und der weitverzweigten Familie mit mordenden Onkeln und alleinerbenden Tanten.
Die erste Szene gleicht einem bedeutungsschwangeren Stillleben: Monsieur Malingear (Arzt ohne Patienten: Marc Bodnar) sitzt auf der einen Seite des üppig möblierten Salons (Bühne und Kostüme: Anna Viebrock) starr und steif hinter seinem schweren Schreibtisch, am anderen Ende lehnt seine Frau (im nachtblauen Petticoat stets Haltung bewahrend: Charlotte Clamens) regungslos in einem Sessel, akustisch begleitet von einem nicht enden wollenden monotonen Glockenschlag. Man spricht mit- und übereinander, ohne den anderen wahrzunehmen. Im Hintergrund sitzt die stumme Tante Friedelind (Catriona Guggenbühl) – die Übertitel lassen das Publikum wissen, dass sie «ein wenig aus der Spur geraten ist».
Wettrüsten in vorbildlicher Lebensführung
Erst, als nach endlos ausgetauschten Nichtig- und Boshaftigkeiten die Kirchenglocken im Vielklang läuten, kommt Leben in die Bude: Emmeline tritt auf, Tochter von Beruf, und später Frédéric, ihr verliebter Klavierlehrer (und Anwalt ohne Klienten). Er habe eine neue Romanze mitgebracht, der Titel lautet: «Der erste Seufzer.» – «Das ist aber ein langer Titel!», kommentiert Emmeline fachkundig, die zum Soundtrack eines romantischen Klavierkonzerts neben der Harfe zu sitzen und ihre Trockenübungen, genannt «Rouladen», vorzuführen hat. Die Eltern werden stutzig, fordern, die zur Heirat nötigen Erkundigungen über die Familie Frédérics einzuholen. Und damit beginnt das Wettrüsten beider Familien in vorbildlicher Lebensführung.
Die Begegnungen stecken voller Skurrilitäten: Es werden Tierpräparate mitgebracht, Blumenvasen dienen als Cocktailgläser und Wurfgeschosse für nicht folgsame Ehemänner, Bananenschalen werden auf beigen Teppichböden und in Teekesseln aus weissem Porzellan entsorgt. Ein Hirschgeweih gibt Halt, wenn einstürzende Stühle diesen verweigern. Und den auf dem Polstermöbel röchelnden Arzt umsorgt die Ehefrau mit einem geliehenen Schnarchtilgungsapparat. Der Weltempfänger sondert braunen Schleim ab.
Die Eltern Ratinois (Nikola Weisse als herzensgute Mutter ohne Manieren; Ueli Jäggi als pensionierter Bäcker mit Puderzuckerlunge, der beim Reden stets die Pfeife in den Mund nimmt) ziehen bei diesem Vergleich unweigerlich den Kürzeren – bis ein böser Onkel (Graham F. Valentine) den vermeintlichen Reichtum der Malingears ergaunert und alle gemeinsam die Ölschinken von den Wänden nehmen und jeden Nippes bruchsicher einpacken.
Vertrackte Fuge, verspinnter Slapstick
Das in der Ouvertüre vor dem Vorhang prominent platzierte Leitmotiv des apartés (auf Marthalerisch: eine ins Gespräch vertiefte Person wendet sich unvermittelt um 45 Grad zur Seite, um ursprünglich heimlich Gedachtes plötzlich im überlauten Flüsterton an ein aussenstehendes Publikum weiterzugeben), bei dem alle Figuren vor dem Vorhang beim französisch-deutschen mit- und übereinander Sprechen Verwirrung stiften (Monsieur Ratinois: «Die Schwiegertochter wird zur Schwiegermutter.»), verliert sich im Laufe des Abends wie der Tropfen Wasser im Ozean (Friedelind: «Ob der Ozean mein Haustier ist, oder ich das Haustier des Ozeans, das ist eine müssige Frage.»).
Vermutlich sind die Figuren zu konkreten Aussagen, die das aparté erst interessant machen, immer weniger fähig, denn das Konkrete weicht dem Skurrilen. «Ich! (Pause) Ich! (Pause) Haus! (Pause) Ich!» lauten die letzten Worte, die Madame Ratinois mit bedeutungsschwangeren Gesten ihren nach und nach das leere Haus verlassenden Mitmenschen zuwirft. Zuletzt hört ihr nur noch die stumme Harfe zu. Dann geht das Licht aus.
Ein etwas abruptes Ende für diese vertrackt komponierte Fuge, die so kunstvoll ihre Themen aus allen nur denkbaren verbalen und nonverbalen Kommunikationsversatzstücken spinnt. Dass sie in ihrer extremen Überzeichnung die Grenze zum Slapstick immer wieder überschreitet, störte das Premierenpublikum (zu dem auch SRG-Direktor Roger de Weck zählte) nicht. Es amüsierte sich weidlich und spendete einen warmen Applaus ganz ohne Buhs.
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«Das Weisse vom Ei», Theater Basel, Kleine Bühne. Weitere Vorstellungen: 23.12. bis 31.1.