Sergey Chilikov verzaubert den verblichenen Dorftrott im sowjetischen Hinterland, Alex Naanou schaut sich auf Moskaus Strassen um. Beide stellen ihre Fotografien im Rahmen des Festivals Culturescapes in der Galerie Oslo8 aus.
Auch das berühmteste Bild, das Sergey Chilikov je geschossen hat, hängt in der Galerie Oslo8 an der Wand. Zwei junge Frauen, eine in braunen Flanellhosen, eine in schwarzen Shorts stehen vor einem weissen Lada, das Licht ist gelb wie Eiter, dahinter führt eine Schotterstrasse in die Leere. 2006 erschien «Gulag Orkestar», das Debutalbum der US-amerikanischen Band Beirut mit diesem Bild auf der Front und setzte mehr als 100’000 Exemplare ab. Die Musik passt so gut zum Bild, weil die Stimmungen sich so gut ergänzten: aus der Zeit gefallener Ost-Folk von einer verwelkender Schönheit.
Fotos schiesst Sergey Chilikov seit den späten Siebziger Jahren als Mitglied der Kreativgruppe «Fakt» in der russischen Provinz Mari El an der Wolga, wo er an der Universität 15 Jahre lang Philosophie lehrte. Aber erst in den Achtziger Jahren, als das Sowjetreich seinen letzten Tagen entgegen wankte, begann Chilikov mit der Kamera zu reisen – nicht in die städtischen Zentren, sondern in die Dörfer, ins Hinterland, in die tiefsten Haine der russischen Seele.
So könnte man die skurrilen Szenen seiner Bilder popularisieren, auf denen viel junges, nacktes Fleisch zu sehen ist, umgeben von einem befremdlichen Setting. Da steht eine junge Frau nackt vor ihrem Kleiderschrank und blickt müde in die Kamera, während sich das Kind hinter der Tür versteckt, ein anderes Bild zeigt eine Frau nackt auf dem Boden in einer grossmütterlichen, verstaubten Wohnung, in der im Hintergrund zwei ältere Damen die Möbel verrücken. Und später posieren Frauen mit entblössten Brüsten und kurzen Röcken auf einer notdürftig gezimmerten Holzbar inmitten von leergetrunkenen Flaschen, während ihnen zu Füssen bereits die ersten Alkoholleichen liegen.
Inszeniert vs. dokumentiert
Die Rohheit, die aus dem Kurzschluss von Alkohol und Sex sprechen könnte und auch auf dem Cover von Chilikovs Bildband «Werke 1978–» präsentiert wird, ist zwar der einsteigende Cliffhanger in seine Fotografien, nachhaltiger aber wirkt die Rätselhaftigkeit seiner Bilder. Ob hier konkret inszeniert und dokumentarisch rapportiert wurde, verraten die Werke nicht, und sollte es in den Provinzen des untergegangenen Reiches einen Alltag mit solchen Szenen gegeben haben, bleiben die Geschichten dahinter unlesbar und könnten ins Komische wie ins Tragische kippen. Man versteht nicht, was hier abgeht. Und schaut deshalb immer wieder hin.
Dadurch unterscheiden sie sich nicht nur in Ort und Zeit von den Arbeiten Alex Naanous, der ebenfalls im Oslo8 ausstellt, sondern vor allem in der Wirkung. Naanou, knapp zwanzig Jahre jünger als Chilikov, hat die Gegenwart auf den Strassen der Metropole Moskau im Blick, und man glaubt ihm sofort, dass das Ungewöhnliche dort Dauergast ist: Passanten mit Pferdemasken, Frauen und grünen Röcken auf Bäumen, Greise in schwarzen Kutten. Die grosse Zahl der Bilder und ihre enge Anordnung legen nahe, dass erst die Masse das Gesamtbild ergibt.
Moskaus Alltag hat viele Gesichter, mag man Naanou sofort glauben, ein eigenes hat er ihm jedoch nicht hinzugefügt. Als Schnappschüsse leben sie davon, was dem Fotografen vor die Linse trat, weniger vom suchenden Blick Naanous in seine Umgebung. Darin fügt sich, dass er seine Bilder quasi in Echtzeit auf dem Portal Flickr veröffentlicht: einem Foto-Blog.
Mehr Fotos aus der Ausstellung gibts in unserem Bildstoff.
- Alex A. Naanou und Sergej Chilikov: Fotografien. Bis 7. Dezember, Fr/Sa 14-18 Uhr. Oslo8, Oslostrasse 8-10, Basel. www.oslo8.ch