Erstmals erregte Anna Odell die Aufmerksamkeit der schwedischen Öffentlichkeit, als sie sich von der Polizei verhaften und in eine psychiatrische Anstalt stecken liess – nur für eine Nacht und ein Kunstprojekt, versteht sich. Der psychotische Schub war inszeniert, der Selbstmordversuch auf einer Brücke ebenfalls. Dafür gab es eine Anzeige und viele, teils genervte, Pressestimmen.
In ihrem Regiedebüt steht Odell wieder im Mittelpunkt. Die Regisseurin besucht nach 20 Jahren ein Klassentreffen. Doch die Wiedersehensfreude wird getrübt: Anna Odell hält eine Tischrede, die der versammelten Festgemeinschaft sauer aufstösst: Anstatt in sentimentalen Jugenderinnerungen zu schwelgen, beschuldigt Odell ihre ehemaligen Klassenkameraden des Mobbings: Sie sei ausgegrenzt, herumgeschubst und verspottet worden. «Ich würde mich umbringen, wenn ich so aussähe wie du», bekam die Aussenseiterin regelmässig zu hören.
Inszenierte Wahrheit
Der Abend endet in einem Handgemenge, Anna wird gewaltsam aus der Runde entfernt: Man fühlt sich an Thomas Vinterbergs verwackeltes Dogma-Drama «Festen» erinnert, in dem eine Familienfeier von jahrelang verdrängten Schuldgefühlen eingeholt und ins Chaos gestürzt wird. Doch kaum scheint die erzählerische Eskalationslinie festgelegt, ändert «The Reunion» seinen Ton.
Das geplatzte Fest gibt sich unvermittelt als Fiktion mit einem wahren Kern zu erkennen: Zwar war Anna Odell tatsächlich das Opfer von Mobbingattacken, aber ihre vorbereitete Rede wurde so nie gehalten – zum richtigen Klassentreffen war sie nicht eingeladen worden. Stattdessen hat die Regisseurin ihren Augenblick der Wahrheit mit Schauspielern inszeniert, um ihre ehemaligen Schulgefährten mit dem Kurzfilm zu konfrontieren.
Hartnäckige Rollenmuster
Die Reaktionen auf diese private Filmvorführung – der Widerspruch, die Ausflüchte, das unverhohlene Desinteresse – lässt Odell ebenfalls nachspielen, weil keiner ihrer Gesprächspartner sich vor laufender Kamera zu den Vorwürfen äussern wollte. Die Gesprächsprotokolle zeigen, wie hartnäckig sich alte Hierarchien und Verdrängungsmechanismen halten, wie schwer sich eine subjektive Wahrheit mit der Wahrnehmung anderer in Übereinstimmung bringen lässt.
Das Ergebnis ist eine kühle, schillernde Mischform, die es verunmöglicht, den Wahrheitsgehalt der Geschichten entlang der Genregrenzen zwischen Dokumentation und Spielfilm zu bestimmen. Die Trennlinie verläuft vielmehr in den Köpfen der Beteiligten.
Dass man sich als Zuschauer nicht so ohne weiteres auf die eine oder die andere Seite schlagen kann, macht «The Reunion» beklemmend spannend.