Der saudische Blogger Raif Badawi kritisierte den fundamentalistischen Islam und wurde dafür mit zehn Jahren Haft und 1000 Peitschenhieben verurteilt. Seine Texte sind nun als Buch erschienen. Das Literaturhaus Basel stellt es morgen Dienstag an einem Diskussionsabend vor.
«Ich versuchte, die Mauern der Unwissenheit niederzureissen, die Heiligkeit des Klerus zu brechen, ein wenig Pluralismus zu verbreiten.» Dafür sitzt der saudische Blogger Raif Badawi seit knapp drei Jahren in Haft. 2008 gründete er das Online-Forum «Die Saudischen Liberalen», eine Website über Politik und Religion im Königreich Saudi-Arabien, beschrieb die staatliche Unterdrückung, forderte Menschen- und Freiheitsrechte und prangerte die strenge Geschlechtertrennung an. Und er kritisierte damit die Staatsdoktrin des theokratischen Königreichs: den wahhabitischen Islam.
«Keine wie auch immer geartete Religion kann menschlichen Fortschritt bewerkstelligen», schrieb er in einem seiner letzten Einträge, «der Liberalismus ist das kognitive Gerüst für und die Perspektive auf ein freies, gutes Leben für alle.» Einen Monat später wurde die Website geschlossen und Badawi verhaftet, der endgültige Richterspruch folgte 2014: zehn Jahre Gefängnis, eine Geldstrafe von rund 250’000 Euro – und eintausend Peitschenhiebe.
Weggesperrt und berühmt
Vorgeworfen wurde ihm «Unglaube», dessen öffentliches Bekenntnis in Saudi-Arabien als terroristisches Verbrechen gilt, weil er die fundamentalistische Staatsdoktrin und somit das Regime als solches infrage stelle. Das Gesetz schliesst die Verbreitung von Botschaften über soziale Netzwerke ausdrücklich mit ein. Seither gibt es im ohnehin repressiven Klima des Königreichs praktisch keinen Raum mehr für dissidente Meinungen.
Badawi ist nur einer von mehreren Aktivisten, die seither in saudischen Kerkern weggesperrt sind, aber keiner ist berühmter. Als am 9. Januar dieses Jahres, zwei Tage nach dem terroristischen Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift «Charlie Hebdo» in Paris, die ersten 50 der 1000 Schläge vollstreckt wurden, waren die Proteste von (westlichen) Regierungen und Menschenrechtsorganisationen scharf. Die restlichen 950 Schläge wurden seither ausgesetzt, offiziell aus gesundheitlichen Gründen. Und Badawi erhielt mehrere Auszeichnungen für seinen Einsatz für die Meinungs- und Pressefreiheit.
Die Bekanntheit seines Falles ist nicht nur dem drakonischen Richterspruch geschuldet, sondern vor allem seiner Ehefrau Ensaf Haidar, die sich beharrlich öffentlich für eine Revision des Urteils einsetzt. Mit Petitionen, Interviews, Appellen an Regierungen wie zuletzt an den deutschen Vizekanzler Sigmar Gabriel vor seiner Dienstreise nach Saudi-Arabien – und nun mit den Worten ihres Mannes.
Der Blog als Buch
Seit Raif Badawis Website ausser Betrieb gesetzt worden war, waren seine politik- und gesellschaftskritischen Einträge als zusammenhängendes Korpus kaum mehr verfügbar. Vor wenigen Wochen hat der deutsche Ullstein-Verlag mithilfe von Ensaf Haidar die gesammelten Texte als Buch veröffentlicht, inklusive eines Vorworts, das Badawi seiner Frau in unregelmässigen Abständen während kurzen Telefongesprächen aus der Haft diktiert hat.
Das Buch mit dem programmatischen Titel «Weil ich sage, was ich denke» gibt Einblick in ein politisches Denken, das sich nicht auf die Verhältnisse Saudi-Arabiens beschränkt. So kritisiert er flammend die «chauvinistische Arroganz» derjenigen muslimischen Gemeinde in New York, die ihre Pläne für eine Moschee in Sichtweite des «Ground Zero» durchzusetzen plante – dasselbe Areal, wo einst die von islamistischen Attentätern am 11. September 2001 zum Einsturz gebrachten Türme des World Trade Centers standen. Saudi-Arabien wird dabei explizit in die Verantwortung eingebunden: es sei sein Land gewesen, das «diese Terroristen exportiert» habe.
In einem anderen Beitrag aus dem Jahr 2010 attackiert er die bedingungslose arabische Solidarität mit den Palästinensern im Nahostkonflikt. Er würde eher gegen die radikal-islamische Hamas in den Kampf ziehen als gegen Israel. Denn: «Das Einzige, was die Hamas kann, ist eine Kultur des Todes und der Ignoranz verbreiten. Und das zu einer Zeit, wo wir nichts dringender brauchten als Leute, die eine Kultur des Lebens und der Zivilisation voranbringen.»
Selbsternannter Weltbürger
Badawi, der Liberale, der selbsternannte Weltbürger, wendete sich in seinen Beiträgen mit klaren Worten gegen jenen Autoritätsanspruch des Islams, der andere Überzeugungen degradiert und zum Feind erklärt. Und damit ebenso gegen global agierende radikale Gruppen wie dezidiert gegen die Politik seines Heimatlands, das neben der Staatsreligion keine anderen Religionen zulässt.
Ihm stellt er den klassischen Liberalismus gegenüber, der individuelle Freiheitsrechte auf der Basis eines säkularen Staatswesens garantiert. Sein Blick reicht somit in die europäische Geschichte und in die Epoche der Aufklärung hinein, deren Gedankengut von der muslimischen Orthodoxie konsequent abgelehnt wird.
Jedoch, auch das gehört zur Klarsicht Badawis, versperrt er sich einer blossen Imitation des europäischen Modells, dessen Rationalismus den Umschlag in Technokratie noch nicht verdaut hat. An ihrer Stelle postuliert er einen geistigen Aufbruch Arabiens, der sich ohne historisches Vorbild zu vollziehen hat. «Wir werden erst anfangen, wenn uns klar bewusst wird, dass wir weder dort ansetzen müssen, wo unseresgleichen aufgehört haben, noch dort, wo unsere Vorgänger angefangen haben. Wir müssen dort anfangen, wo wir anfangen müssen: nämlich von Neuem.»
Dass er mit dieser Überzeugung nicht alleine ist, hat er im Vorwort in anekdotischer Weise festgehalten: Im Gefängnis in Saudi-Arabien entdeckte er, an die Wand des Klos gekritztelt, von einem unbekannten Häftling den Satz: «Der Säkularismus ist die Lösung.» Ein Lichtblick während seiner Marter: «Dass ich so etwas zu lesen bekam, inmitten Hunderter vulgärer, in allen erdenklichen arabischen Dialekten geschriebener Worte, mit denen man diese dreckigen Klowände beschmiert hatte, bedeutet, dass es irgendwo hier in diesem Gefängnis zumindest eine Person geben muss, die mich versteht.»
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Raif Badawi: «1000 Peitschenhiebe – Weil ich sage, was ich denke», Ullstein Verlag.
Diskussion mit Elham Manea (Institut für Politikwissenschaft, Uni Zürich) und Reto Rufer (Nahostexperte der Schweizer Sektion von Amnesty International), Literaturhaus Basel, Dienstag 5. Mai, 19 Uhr.