Grundrechte fielen nicht vom Himmel, sondern mussten in der Geschichte des Strafrechts erkämpft werden. Eine Ausstellung im Historischen Museum Basel hilft, dies nicht zu vergessen.
Vor zwei Jahren spukte die Todesstrafe letztmals durch die Schweiz. Ein Komitee legte der Bundeskanzlei eine Volksinitiative zur formellen Prüfung vor, Titel: «Todesstrafe bei Mord mit sexuellem Missbrauch».
Nachdem die Bundeskanzlei die formelle Korrektheit des Begehrens positiv beurteilt hatte, brach die Diskussion los. 24 Stunden lang erlebte die Schweiz eine hochemotionale Auseinandersetzung um Recht und Vergeltung, Strafe und Rache, Auge und Zahn. Danach zog das Komitee die Initiative zurück.
Bezeichnend war die Motivation der Lancierung. Unter dem Eindruck eines Kapitalverbrechens im eigenen Bekanntenkreis kam ein Mitglied des Initiativkomitees zum Schluss, dem Staat müsse ein Instrument zur Ahndung extremer Verbrechen «zurückgegeben» werden. 1942 hatte die Schweiz die Todesstrafe in Friedenszeiten abgeschafft, 1992 wurde sie aus dem Militärstrafgesetz gestrichen.
Bemerkenswert an der Begründung der Initiative: Anlass war die persönliche, schockartige Erfahrung, die nun Konsequenz für das Sanktionsmonopol des Staates haben sollte. In der Ausstellung «Schuldig», die am 20. September im Historischen Museum Basel eröffnet wird, kommt diese Volksinitiative nicht vor, aber die Stimmung, der sie entsprungen ist, wird festgehalten.
Todesstrafe ist für viele kein Tabu
An der Basler Mustermesse haben die Ausstellungsmacher eine Umfrage zur Wiedereinführung der Todesstrafe durchführen lassen. Die ausgewählten Antworten sind deutlich: Für Delikte wie Kindesmissbrauch und Sexualmord ist eine Mehrheitsmeinung pro Todesstrafe vorhanden.
Rechtshistoriker bestätigen den Eindruck. «Nach dem Mord vom Zollikerberg 1993 hat der Ruf nach repressiveren und vergeltenden Strafen zugenommen», sagt Lukas Gschwend von der Uni St. Gallen. Die Tat an einer Pfadfinderführerin, begangen von einem bereits verurteilten Sexualmörder auf Hafturlaub, bewirkte laut Gschwend ein Umdenken in der Rechtssprechung. «In den 1980er-Jahren, als ich studiert habe, war Vergeltung kein Thema im Strafrecht. Manche Juristen haben das archaische Element der Strafe ausgeblendet und den Blick in die Zukunft gerichtet, in die Resozialisierung und Prävention. Opfern und Angehörigen ist das schwer vermittelbar.»
Kirchliche Moralvorstellungen
Damit reagierte das Strafrecht auf ein gestiegenes Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft, das sich in jüngerer Vergangenheit mittels zwei erfolgreicher Volksbegehren Geltung verschaffte – der Unverjährbarkeitsinitiative und der Verwahrungsinitiative. Aufgrund dieser Erfahrung ist für die Wiedereinführung der Todesstrafe, deren Abschaffung als Errungenschaft eines erfolgreichen Zivilisationsprozesses galt, eine Mehrheit vorstellbar.
Soll man das gut finden, dass der Bürger, emphatisch erregt, gezielt am Strafgesetz herumschrauben kann? Oder gehört es elementar zum direktdemokratischen Rechtsstaat, dass der Souverän konkreten Einfluss auf die Rechtssprechung nehmen kann – auch unter dem Risiko, dass das Recht vermehrt gesellschaftlichen Stimmungen denn rational-normativen Figuren ausgesetzt ist? Zu dieser Spannung zwischen Rechtsstaat und Demokratie hält die Ausstellung im Historischen Museum keine Antwort bereit, aber sie fängt die prozessuale Natur des Strafrechts anschaulich auf, indem sie die Entwicklung des europäischen Verständnisses von Recht und Strafe mit aussagekräftigen Beispielen illustriert.
Die Präsentation des Strafvollzugs aus dem Mittelalter gegen Sünder und Tiere, Selbstmörder und Sodomisten verdeutlicht die starke Einflussnahme von vorherrschenden – in diesen Fällen kirchlichen – Moralvorstellungen. Die drastischen Darstellungen der «peinlichen» Strafen, der Sanktionen gegen Leib und Leben der Täter mittels Räderung, Verbrennung oder Enthauptung, legen Zeugnis ab, dass die unveräusserlichen Grundrechte des Individuums keine Selbstverständlichkeit sind, sondern in der Naturrechtslehre erst begründet und erkämpft werden mussten.
Gleichzeitig ist bereits in diesen Gerichtsprozessen, so irrational sie aus heutiger Perspektive mit ihren Gottesurteilen auch scheinen mögen, das Recht auf Strafe dem Geschädigten abgenommen, einer höheren Autorität überantwortet und von ihr monopolisiert worden.
Dieses Prinzip ist bis heute Bestandteil des Rechts. Das Opfer habe sein historisches Recht auf Vergeltung verloren, sagt Gschwend. «Es kann nur als Nebenkläger, Zeuge oder Opferhilfsberechtigter auftreten.» Der Strafanspruch gehe vollständig auf den Staat über. «Wenn man das konsequent durchdenkt, muss der Staat auch die Genugtuung des Opfers durch Vergeltung in der Rechtssprechung vermitteln können.» Deshalb könne eine Strafe nicht nur als therapeutischer Zweck formuliert werden, «sondern muss auch mit Unannehmlichkeiten für den Täter verbunden sein».
Menschliche Moral
Welche Unannehmlichkeiten das konkret sein sollen, unterliegt nicht nur beständigen Grundrechten wie der Menschenrechtskonvention, sondern wird vom Gesetzgeber stets aufs Neue erarbeitet. Dass die in der Aufklärung erdachte Trennung von Legalität und Moralität dabei nicht konsequent zu haben ist, liegt auf der Hand. Menschen sind, auch in der direkten Demokratie, moralische Wesen. Weltanschauliche Neutralität ist vom Rechtsstaat nicht vollständig zu erwarten, vielmehr wird er von gesellschaftlichen Wertewandeln beeinflusst. Beispiel dafür ist das 1992 revidierte Sexualstrafrecht, das die rechtliche Diskriminierung Homosexueller aufhob und mit überkommenen Wertevorstellungen des 19. und 20. Jahrhunderts aufräumte.
Ob für Verschiebungen in der Vorstellung von Recht und Unrecht allerdings das Strafrecht stets der richtige Schauplatz ist, bezweifelt Gschwend: «Schärfer als mit dem Strafrecht kann der Staat nicht reagieren.» Auf der anderen Seite ist zu beobachten, dass die Verbindlichkeit von gesellschaftlichen Werten, von praktischer Moral ausserhalb der Gerichte an Kraft eingebüsst hat und der Rechtsstaat vermehrt gerufen wird, die Lücke zu füllen. Die Ausstellung «Schuldig» greift diese Tendenz auf, indem sie die härtere rechtliche Auseinandersetzung mit potenzieller Gewalt in Sportstadien thematisiert.
Die Sorge gilt allerdings weniger Entwicklungen in Richtung eines allmächtigen Staates, sondern mehr dem erodierenden Bewusstsein dessen, welche Bedeutung individuelle Grundrechte für ein Leben in Menschenwürde haben. An die Brutalitätsgeschichte, die Europa durchlaufen hat, bis diese gewonnen waren, erinnert die Ausstellung.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 14.09.12