Ein Signalfeuer hätte die westlichen Eroberer nicht zuverlässiger leiten können: Als der britische Seefahrer James Cook im Jahr 1774 die Pazifik-Insel Tanna als erster Europäer ansteuerte, erschien ihm der glühende Vulkan Mount Yasur als «Leuchtturm der Südsee».
Cook benannte die Bucht, in der er landete, nach seinem Schiff Port Resolution, den Feuer spuckenden Berg bestieg er allerdings nie: Der Vulkan war für die Schiffsbesatzung wie für die Einheimischen tabu.
Rund 240 Jahre später ist dieses Verbot kein Problem mehr: In ihrer exotischen Dokufiktion «Tanna» schicken die australischen Filmemacher Martin Butler und Bentley Dean die einheimischen Darsteller aus dem Dorf der Yakel barfuss und in Lendenschürzen den steilen Berghang hoch, um sie dort als Staffage vor der brodelnden Lava ausharren zu lassen.
Frauentausch im Urwald
«Tanna» beginnt trügerisch friedlich: Die Kinder spielen den ganzen Tag im Urwald, die Frauen baden oben ohne, die Männer singen im Kreis. Es ist ein Festtag, denn die junge Wawa (Marie Wawa) wird zur Frau. Ihre Gefühle für Dain (Mungau Dain) sind dem Mädchenalter allerdings längst entwachsen, sie trifft sich heimlich mit dem Enkel des Stammeshäuptlings. Das geht so lange gut, bis der Medizinmann der Yakel von den Kriegern der Imedin angegriffen wird.
Um eine blutige Fehde zu verhindern, beschliessen die beiden Stämme nach altem Brauch, heiratsfähige Frauen auszutauschen. Und ausgerechnet Wawa wird einem Krieger der Imedin versprochen. Dass sie mit ihrem Geliebten Dain daraufhin das Weite sucht, ist historisch verbürgt: 1987 versetzte ein ähnlicher Fall die Insel in Aufruhr.
Auf ihrer Flucht zum Mount Yasur begegnen die Naturkinder an der Küste einem Haufen degenerierter Insulaner in T-Shirts. Wawa und Dain sollen ihr lasterhaftes Leben ablegen und sich ihnen anschliessen, fordern die religiösen Eiferer. «Die machen mir Angst», gruselt sich Wawa, «da lebe ich lieber im Wald.»
Schwarze Kathedralen
Um verstehen zu können, was es mit dieser kuriosen Szene in «Tanna» auf sich hat, muss man sich allerdings «Into the Inferno» ansehen – das eindrückliche Filmessay von Werner Herzog, das derzeit auf Netflix läuft. Herzog, der bekanntlich gerne in existenzielle Abgründe blickt, widmet sich den feurigen Schlünden der Vulkane, die rund um den Globus wie schwarz blakende Kathedralen in den Himmel ragen.
Und dieser Vergleich kommt nicht von ungefähr, geht es dem wilden Mann des Dokumentarfilms doch längst nicht nur um die physikalische Dimension des Phänomens, sondern um eine spirituelle: Was stellt das Wissen um die Unbeständigkeit der Natur mit Menschen an, die ihr Leben in unmittelbarer Nähe zu den Pforten zur Unterwelt fristen?
Herzogs Vergil im Gang durch das flammende Inferno ist der britische Vulkanologe Clive Oppenheimer, den der deutsche Filmemacher von einer früheren Dokumentation her kennt und schätzt. Mit wohltuend temperiertem Enthusiasmus führt Oppenheimer rund um die Welt: von Äthiopien über Nordkorea bis Island, wo Herzog aus dem altnordischen Heldenepos Edda den feurigen Untergang der Welt rezitiert.
Und selbstverständlich steht Herzog in Schutzkleidung auch vor dem Krater des Mount Yasur, der seit mindestens 800 Jahren aktiv ist. Um diesen Vulkan wie auch um die Feuerschlöte der umliegenden Inseln hat sich vor etwa 80 Jahren eine junge Religion gebildet, die als Reaktion auf die Kolonialgeschichte der von Frankreich und Grossbritannien gemeinsam verwalteten Neuen Hebriden zu verstehen ist.
Im Mittelpunkt dieses sogenannten Cargo-Kults steht der Glaube, die westlichen Einflüsse zurückdrängen zu können, ohne aber auf deren Konsumgüter («cargo») verzichten zu müssen. Auf Tanna ist es die sogenannte John-Frum-Bewegung, die im Mount Yasur einen amerikanischen (!) Erlösergott vermutet, der die Insulaner eines Tages befreien und zu ihren alten Bräuchen zurückkehren lässt.
«Kastom» werden diese Traditionen zusammenfassend genannt, das englische Wort für Brauch («custom») liegt dem Begriff zugrunde, und eindeutiger lässt sich die traumatische Erfahrung einer kulturellen Entfremdung wohl nicht ausdrücken.
Komplexer Kolonialismus
Solche Cargo-Kultisten also treffen Wawa und Dain in «Tanna», und die Begegnung schafft einen unredlichen Gegensatz zwischen den Küsten- und den Waldbewohnern, die mit Zwangsheirat und Blutfehde nichts anderes verfolgen als die Beibehaltung desselben «Kastom», nur mit anderen Mitteln.
Yakel selbst ist ein solches «Kastom»-Dorf, das touristisch längst erschlossen ist, und die Filmemacher legen grossen Wert darauf, dass das Drehbuch zu «Tanna» gemeinsam mit den indigenen Darstellern erarbeitet wurde, zwecks grösserer Authentizität.
Mit der ist es dann allerdings nicht weit her, wenn die westliche Wunschkulisse einer naturbelassenen Gesellschaft aufrechterhalten wird und sich das Ergebnis wie eine exotisch gepimpte Version von «Romeo und Julia» ausnimmt. Die Landschaftsaufnahmen sind sicher eindrücklich, die Vulkaneruptionen sowieso, aber der Versuch, im Namen der indigenen Bevölkerung zu erzählen, ist bestenfalls naiv, wenn in seiner kolonialistischen Komplexität nicht geradezu anmassend.
Wo Werner Herzog radikal subjektiv wird, täuschen die australischen Filmemacher in «Tanna» vor, gar nicht da zu sein. Und das ist, wie Filmkritiker Pascal Blum feststellt, nichts anderes als die «Machttechnik eines weissen Herrschers», der das Fremde gnädig teilhaben lässt an der Repräsentation seiner selbst.