Beim diesjährigen Shift-Festival lagen Licht und Schatten nahe beisammen: Als ätherische Geistermädchen enttäuschten die vier Nachtigallen (fast) auf der ganzen Linie, während zwei alte Hasen bewiesen, dass es nicht schadet, (mehr als) einen Vogel zu haben.
Fast kann er einem ein wenig leid tun. Da steht Robag Wruhme nach seinem Set am späten Freitagabend mutterseelenallein mitten im Shift-Publikum, hält die halbvolle Sektflasche fest umklammert, tritt unsicher von einem Fuss auf den anderen, versucht die nächste überschwängliche Umklammerung durch einen seiner betrunkenen Fans schon im Voraus abzuwehren.
Denn der diesjährige Festival-Headliner, so scheint es, will mit seiner Vergangenheit brechen, mit der Zeit, als er noch samt Ex-Partner Monkey Maffia als Duo „Wighnomy Brothers“ um die Welt tourte und jeden Club zum Kochen brachte. Die “Party-Ewoks“ nannte man sie damals in ihrer Homebase, dem Jenaer Label “Freude am Tanzen”: mit Rauschebart und wirrem Haar, tanzend hinterm DJ-Pult, die Wodkabuddel stets zur Hand. Doch wie so oft in dieser feuchtfröhlichen Feierwelt folgte die Er- beziehungsweise Ausnüchterung auf den Fuss: Burn Out, Time Out, ab in die Reha.
Heute ist Robag Wruhmes Bart gestutzt, sein Haar gekämmt, er trägt Hornbrille und trinkt Sekt: Das Minimal-Rumpelstilzchen mutiert zum geläuterten Professor und erteilt am Shift-Festival eine Lektion in Sachen Techno. Eine Geschichts- und gleichzeitig Sternstunde seines Genres, welche von frühen Jacking-House-Tunes über Aphex Twins unvergesslichen “Windowlicker” bis zu Villalobos’ epochalem Klassiker “Dexter” reicht. All dies präsentiert Wruhme in Form eigener, kleiner aber feiner Mini-Remixe, oder wie dieser Trend neuerdings wieder heisst: “Edits” – teils noch extra am Abend zuvor in der Küche seines Bauernhofs angefertigt, wie er der “TagesWoche” auf Nachfrage rührig erklärt. Und doch, trotz des zweifelsohne ausgeklügelt ausbalancierten Setaufbaus macht sich im Saal erstmal leise Enttäuschung breit. Vielleicht hätte man sich Robag Wruhme einen Tick euphorischer, ausgelassener, unbeschwerter gewünscht: So wie früher eben.
Genau dies trifft gleichzeitig auch auf das gesamte Musikprogramm der Shift zu: Irgendwie wollten beide Abende nicht so recht in die Gänge kommen – und dann war schon wieder fast alles vorbei. Lag’s an der Besucherzahl, die sich im Vergleich zu den Vorjahren leicht verringert zu haben schien, insbesondere am Freitag? Lag’s am strikte kontrollierten Rauchverbot, welches dazu führte, dass über weite Strecken des Abends die Party draussen, an der frischen Luft stattfand? Lag’s am zweiten Floor, dem neuen “Shift Club”, der aufgrund der avantgardistischen Programmation (Experimentelle Electronica des Genfer “Electron”-Festivals am Freitag, Noise-Experimente zur Peaktime am Samstag) nur am Vernissage-Abend seinem Namen gerecht wurde? Lag es schliesslich gar am (nicht ganz einfachen, da extrem vieldeutigen) Motto “Of Birds and Wires – Stimmen unter Strom”?
Gazelle Twin, Nite Jewel und Cooly G
Fest steht: Im Vergleich zu früheren Jahren war die Stimmung im Publikum über weite Strecken des Wochenendes zurückhaltend. Insbesondere die mit Spannung erwarteten, weiblichen Acts vermochten mit ihrer Inszenierung als ätherische Geisterwesen und abwesende Spukgestalten nicht zu fesseln: So versteckte sich Elizabeth Walling als “Gazelle Twin” während ihres Auftritts im Dunkeln. Vergeblich versuchte man im Licht der Taschenlampe mehr als einen kurzen Blick auf die zierliche Dame zu erhaschen.
Nite Jewel aus L.A. liess bei ihrer Ansammlung von Seufzern stringentes Songwriting vermissen, während Hyperdub-Hoffnung Cooly G tags darauf den Akzent (zu) stark auf Lounge- und Liftmusik setzte, die nur selten von erlösenden Bass-Eruptionen durchbrochen wurde. Symptomatisch beendete die Britin ihr Liveset mit einem Coldplay-Cover: “I never meant to cause you trouble / I never meant to do you harm” – das war dann doch alles zu zart gehaucht, zu harmlos intoniert, um hängen zu bleiben. Als einzige verströmte Cooly G’s Hyperdub-Kollegin Ikonika ein wenig Frauenpower: Ihr DJ-Set zum Festivalabschluss bot allerdings mit hartem, stumpfem, wenig abwechslungsreichem Warehouse-Techno eher maximalen Dröhn- als Spassfaktor.
Gerade der mit Spannung erwartete, Dubstep-lastige Samstag hinterliess insgesamt einen eher enttäuschenden Eindruck: Ghostpoet, Londoner mit nigerianischen Wurzeln, zeigte mit seinem musikalisch simplem, atonalen Sprechgesang eine solide Performance, die an Tricky erinnerte – aber auch nicht mehr. Vorzeige-Dubstepper Hudson Mohawke begeisterte dagegen zwar seine fleissig beatnickende Fanschar, die vorwiegend aus jungen Männern in “Hoodies” (Kapuzenpullover) bestand, mit dem typischen Beats’n’Breaks-Gewitter und tiefen Wobble-Bässen, die von schrillem Sirenengeheul, Clap-Salven und ständigen Rewinds unterbrochen wurden. Jenes aus Jungle und Drum’n’Bass bereits sattsam bekannte Muster übt mit seiner rohen Energie und dystopischen Klanglandschaft in den emotionalen Turbulenzen der späten Teenager-Jahre zweifelsohne grossen Reiz aus. Mit steigender Anzahl an Lenzen auf dem Buckel wirkt derart hektisches Gedöns aber (zumindest bei der Schreiberin) nur noch nervtötend.
Multimedia mit Tim Exile
Zum Glück gab’s da auch noch eine Rampensau namens Tim Exile. Wie eine Art postmoderner billiger Jakob hat der studierte Philosoph und Geiger Tim Shaw seine Kunstfigur entworfen – frei nach dem Vorbild der so grossmäuligen wie wortgewandten Ostlondoner Strassenverkäufer, die in breitem Cockney-Akzent zweifelhafte Ware aus Autokofferräumen feilbieten. Die dubiose Fracht sind in diesem Fall via Crowdsourcing auf Soundcloud geladene Audioaufnahmen, Snippets und Samples. In einer schwindelerregend schnellen Improvisationsphase verarbeitet Tim Exile die Spuren daraufhin zu Bausteinen, aus denen sich die Trackskizzen seines Livejam-Liveacts bilden. Das Resultat klingt laut, rau und lärmig, und bewegt sich blitzartig zwischen Breakcore, Jungle, Gabber und Dubstep. Nur schade, gelang es trotz Schützenhilfe aus der heimischen Stube nicht, Exile während der Session zur Verwendung komplexerer Audiospuren (etwa zusammenhängender Melodiefragmente) zu bewegen. Stattdessen nutzte er neben den brachialen Beats lieber ein wohl von Basler Primarschülern ins Mikro geplärrte “Furz in de Hose”-Sätzchen als Vocal – Was wiederum einiges über Chancen wie Grenzen dieses kurzweiligen, zwischen genial und grauenhaft pendelnden Web 2.0-Projekts verrät.
Trotzdem: Tim Exile lotete bei der diesjährigen Shift-Ausgabe am ehesten die Grenzen des Möglichen aus – denn der Multimedia-Experte ging mit seiner globalen, interaktiven Jam-Strategie noch einen Schritt weiter als Tags zuvor sein Mitstreiter Matias Aguayo. Der südamerikanische Sonnyboy mixt dagegen eigene Gesangspassagen via CDJs zusammen, und türmt zusätzlich darüber hinaus mehrere Spuren seines gesampelten Live-Gesang zu veritablen Stimmkaskaden auf. Die so entstehenden, vielschichtigen Klangkunstwerke, die bereits sein A Cappella-Album “Ay Ay Ay” ausmachten, gewinnen live an Eindringlichkeit, Sogwirkung und Dichte. Dabei schadete auch nicht, dass Aguayo – quasi als Ricky Martin des Tech House – seine erotisch aufgeladene Bumbumbox-Performance mit perfektem Hüftschwung komplettierte.
Die Vögel flogen hoch
Zum absoluten Höhepunkt der diesjährigen Shift-Ausgabe geriet allerdings nicht Latin Lover Aguayos Semi-Liveact, sondern – getreu dem Festivalmotto – der Auftritt zweier ganz und gar schräger Vögel: Mense Reents und Jakobus Siebels, zwei sympathische Männer im besten Alter, die mit ihrer Halbglatze und dem Bauchansatz wirken, als hätten sie sich hier nur verirrt, als sie Samstagmorgens um 3 Uhr früh als letzte die Hauptbühne betreten.
Doch der Schein trügt: Denn die beiden genialen Hamburger Multi-Instrumentalisten (von denen Reents bereits Mitglied der “Goldenen Zitronen” war und früher solo als Einmann-Electronica-Projekt “Egoexpress” für Furore sorgte, während Jakobus Siebels bei “Ja König Ja”, der Hausband des legendären “Golden Pudel Club” aktiv ist), haben von Tin Whistle über Posaune bis zur Tuba ein ganzes Arsenal an Blasinstrumenten dabei – und während deren Gebrauch bleibt kein Auge trocken!
Eine Stunde lang entfachen die Zu-Zweit-Unterhalter ein Feuerwerk an Spielwitz, das jede Balkan-Blaskappelle an die Wand spielt, jeden DJ alt aussehen lässt: Da prallen Marschmusik und After-Hour-Sound aufeinander, trifft Kinderlied auf Minimal Techno, klassische Ouvertüre auf dadaistische Soundcollage. Mit irrwitzigen Tempi- und Instrumentwechsel, einstudierten Choreographien und direkt in die Beine fahrende Beats zwischen Techno, House und Volksmusik heizen “Die Vögel” den verbliebenen Besuchern der Dreispitzhalle ein, bis euphorische Jubelschreie erledigter Hipster ihre Musik übertönen.
Wer vor Pioniergeist sprühende Kompositionen wie “Fratzengulasch” oder “Blaue Moschee” hört, und Wucht sowie Spielfreude dieser beiden Vögel live erlebt hat, versteht auch warum DJ Koze – einer der weltweit wichtigsten DJs und Produzenten im Bereich elektronische Musik – eigens ein Label für das Duo gründete. Treffend “Pampa” benannt, gibt dieses im zweiten Jahr seines Bestehens bereits den Ton in der Techno-Welt an.
Übrigens: Diesen Frühsommer startete auch ein gewisser Robag Wruhme mit dem hochgelobten Studioalbum “Thora Vukk” sein Comeback via “Pampa”-Imprint. Vielleicht stand er deshalb so schüchtern samt Schampusflasche im Publikum, als “Die Vögel” auftraten: Schliesslich hat der Shift-Headliner diesen als Newcomern getarnten, alten Hasen indirekt einiges zu verdanken. Später, in ihrem Basler Hotel, sollen die drei einander jedenfalls noch bis weit in die Morgenstunden enthusiastisch Trackentwürfe vorgespielt haben. Eine schöne Geste zur gegenseitigen Respektsbekundung, und eine versöhnlich stimmende Abschluss-Anekdote zum Fünf-Jahr-Jubiläum einer im Vergleich zu den Vorjahren insgesamt doch eher verhalten ausgefallenen Shift-Ausgabe.