Schlaflos in Piacenza, schlaflos in Basel

Am 24. Januar wird in Basel die Neuausgabe von Ulrich Bechers Buch «Kurz nach 4» gefeiert. Der Basler Schriftsteller Martin Roda Becher lässt den Roman für die TagesWoche Revue passieren. Und erinnert damit an seinen Vater.

Am 24. Januar wird in Basel die Neuausgabe von Ulrich Bechers Buch «Kurz nach 4» gefeiert. Der Basler Schriftsteller Martin Roda Becher lässt den Roman für die TagesWoche Revue passieren. Und erinnert damit an seinen Vater.

Ein Mann allein am Steuer seines Fiat 1100. Sein Ziel ist Rom, dort wird er nie ankommen. Aber bis er sich zum Abbruch der Reise entschliesst, dieser Franz Zborowsky, Wiener Künstler und Einzelkämpfer, reisen wir als Leser mit ihm von Piacenza bis Parma. Eine Fahrt durch Italien – das Sehnsuchtsland aller Deutschen, deutschsprachigen Schweizer und Österreicher. Italien, als es noch in voller Nachkriegsblüte stand, von Mussolini befreit und lange vor Bungabunga-Berlusconi, Monti und den Sparmassnahmen – statt dessen Vespa, Mottaeis, Campari Punte Mes, blendendes Essen und niedrige Preise. Ein Traumland? Nicht ganz. Zborowski, dem Helden von Ulrich Bechers erstem Roman – er schrieb ihn 1954 noch vor seinem grossen Lebensroman «Murmeljagd» –, zerrt dieses Sehnsuchtsland schon in der ersten Nacht in Piacenza tüchtig an den Nerven. Ins Hotel ergiessen sich aus den Autobussen Ströme von schnatternden Touristen, und die ganze Nacht knattern die Vespas durch die engen Gassen. Sie werden den übermüdeten, asthmanfälligen Fiatlenker wachhalten – bis ins Morgengrauen, kurz nach 4. 

Ein Heimatloser

Nachtzeit – Erzählzeit. Mit raffinierten Rückblenden entrollt Ulrich Becher vor uns den Teppich einer atemberaubenden Biografie, einer Geschichte von Krieg und Liebe, Freundschaft und Verrat. Ein Held ist er nicht, dieser Zborowsky, «Boro», wie ihn seine Freunde nennen – oder doch ein Antiheld, wie er im Werk Ulrich Bechers immer wieder anzutreffen ist. Als Antifaschist im von den Deutschen 1938 okkupierten Österreich zur Flucht gezwungen, Teilnehmer am Spanischen Bürgerkrieg, interniert in einem französischen Kriegsgefangenenlager, überstellt nach Mauthausen, in Oberösterreichs berüchtigtes Konzentrationslager, entlassen in eine Strafkompanie, die gegen serbische Partisanen kämpft, desertiert und übergelaufen zu den Partisanan selbst, nachdem er Zeuge einer minutiös beschriebenen Geiselerschiessung wird, zurückgekehrt in das von den Siegermächten in vier Sektoren geteilte Nachkriegs-Wien, bleibt Boro ein Heimatloser. Aber in dieser schlaflosen Nacht in Piacenza überfällt ihn auch die Erinnerung an seine tote Geliebte, die Spanierin Lolita, die ein Opfer des Spanischen Bürgerkriegs wurde – und an seinen besten Freund Kostja, den Zborowski in Rom besuchen will und den er am Ende als Verräter entlarven wird. 

Eine Kreuzung

Gegen Ende des Romans, nach der schlaflosen Nacht in Piacenza und einer weiteren in Parma, die dem Italienreisenden noch die Wiederbegegnung mit einer alten Flamme, einer Wiener Schauspielerin, beschert, ist diese nette Italienreise zu einer «unnetten» geworden, wie der Herausgeber des neu aufgelegten Romans, der Wiener Verleger Christoph Haacker, im äusserst klugen und informativen Nachwort schreibt. 

Das alles ist bunt, kolportagehaft und gleichzeitig literarisch avanciert, was seinerzeit einen Kritiker zur kühnen Behauptung verleitete, Ulrich Bechers Prosa sei eine Kreuzung aus Arno Schmidt und Johannes Mario Simmel. Doch «Kurz nach 4» ist weder das eine noch das andere: weder ein verqueres und vertüfteltes Sprachkunstwerk à la Schmidt noch ein schmissiger Zeitgeistroman à la Simmel. «Kurz nach 4» ist vielmehr ein typisches Eigengewächs dieses unverwechselbaren Schriftstellers Ulrich Becher.

Ein Wanderleben

Wer aber war dieser unbekannteste unter den bekannten Autoren deutscher Sprache, wie er sich selbst gelegentlich definierte? Auch sein Leben war bis zu einem bestimmten Zeitpunkt abenteuerlich, wenn auch lange nicht so abenteuerlich wie das seines Romanhelden Boro. Als waschechter Berliner geboren, Sohn eines preussischen Anwalts und einer Schweizer Pianistin, verkehrte er schon in ganz jungen Jahren in Berlins Künstlerkreisen um Brecht und Piscator. Sein Freund, der Zeichner George Grosz, verschaffte ihm den Kontakt zum Rowohlt Verlag, der den ersten Erzählband des 23-jährigen Autors veröffentlichte: «Männer machen Fehler». Einer literarischen Blitzkarriere schien nichts im Weg zu stehen. Doch nach der Machtergreifung der Nazis begann für den jungen Schriftsteller ein rastloses Wanderleben zwischen Österreich und der Schweiz.

Ein Einzelgänger

1941 emigrierte er mit seiner Frau Dana, Tochter des österreichischen Satirikers Roda Roda, nach Südamerika, später für vier Jahre nach New York. Erst in den 1950er-Jahren siedelte er sich wieder in seiner Wahlheimat, der Schweiz, an. Zunächst mit Theaterstücken erfolgreich, darunter dem vielgespielten und mehrfach verfilmten Stück «Der Bockerer», wurde Becher in den folgenden Jahren zum Romanautor. Sein Werk blieb aber immer umstritten. Als Einzelgänger konnte er sich mit seiner Prosa in dem von der Gruppe 47 beherrschten Literaturbetrieb nicht wirklich durchsetzen.

Ein Lärmgeplagter

Den Rest seines Lebens verbrachte er grösstenteils in Basel. Seine Koffer standen immer griffbereit, doch er blieb – mit grossen Unterbrechungen zwar –, in einem Zwei-Zimmer-Apartment am Steinengraben. Ein Wohnort mit nahegelegenem Park, der damals in den 1950er-Jahren eine eher ruhige, beschauliche Umgebung bot. Aber selbst als sich dieses Haus mit dem Verkehrslärm des neuerbauten Cityrings in einen geradezu infernalisch lauten Wohnort verwandelte, blieben Uli Becher und seine Lebensgefährtin Dana diesem Apartmenthaus erhalten. Mit Oropax gewappnet, schrieb der Lärmgeplagte dort sein Spätwerk.

Insofern ist auch der in schöner Neuausgabe im kleinen, aber feinen Wiener Arco Verlag wieder neu aufgelegte Roman «Kurz nach 4» ein typisches Ulrich-Becher-Buch – das Zeugnis eines hochempfindlichen Zeitgenossen, der gegen den Lärm in allen Arten anschrieb: Sei es der Kriegslärm der Kanonen, das Gebell der Diktatoren und Demagogen oder der ganz gewöhnliche Strassenlärm. Dieser Lärm setzte, wie gerade der Roman «Kurz nach 4» beweist, die Phantasie und Sprachmagie eines genuinen Erzählers in Bewegung. So könnte auch die Lektüre dieses Romans manchen Leser um den Schlaf bringen. 

Nächster Artikel