«Snow White and the Huntsman» schickt das grimmsche Schneewittchen auf einen Rachefeldzug und steht damit stellvertretend für eine Reihe von Filmen, die von den alten Märchen nur noch Namen und Rahmenhandlung benutzen, um eine neue Geschichte zu erzählen, die uns irgendwie an irgendwas erinnert.
Märchen haben etwas Magisches. Sie entführen uns in eine Welt der Feen und Zwerge, erzählen uns Geschichten von Prinzessinnen und Königen, von Hexen und Zauberern. Kein Kind wächst ohne die Märchen der Brüder Grimm auf, jedes kennt den Froschkönig, jedes kennt Schneewittchen. Wenn uns unsere Eltern von Rotkäppchen erzählten, fürchteten wir uns das erste Mal so richtig, als der Wolf das kleine Mädchen verschlingen wollte.
Welch dankbarer Fundus sind diese Märchen doch für einen Filmemacher! Sie lassen viel Raum für Interpretationen, sind sie im Original doch in wenigen Worten geschrieben. Die Charaktere sind nur unscharf gezeichnet – vom Prinzen, der Dornröschen aus dem Schlaf küsst, weiss man beispielsweise kaum etwas, seine Rolle liegt alleine im lebenswichtigen Kuss begründet.
Die bösere Hexe
1959 verfilmte die Walt Disney Company «Dornröschen» für die Leinwand. Der Zeichentrickfilm wurde ein Hit, wie schon «Schneewittchen» ganze 22 Jahre vorher. Und wie schon damals hielt man sich nur in groben Zügen an die Originalvorlage und reicherte sie mit allerlei zusätzlichen Elementen an. So trifft der Prinz Dornröschen schon im Wald, bevor die Prinzessin einschläft, und die beiden verlieben sich. Die Hexe, die Dornröschen mit einem Fluch belegte, ist noch einiges böser und verwandelt sich zum Schluss gar in einen Drachen.
Während es Dornröschen seither nicht mehr schaffte, das Kinopublikum zu verzaubern, erlebt Schneewittchen gerade ein Revival. Im US-Fernsehen läuft aktuell erfolgreich die Serie «Once upon a time», die die Märchenwelt als Paralleluniversum der realen Welt entgegenstellt. Im Kino laufen die Komödie «Mirror, Mirror» und ab Freitag auch «Snow White and the Huntsman».
Bei der Betrachtung dieser drei Schneewittchen-Versionen wird schnell klar: Die Märchenstoffe sind noch attraktiv, doch offenbar taugen die Figuren nur noch bedingt. Wer will heute schon Schneewittchen dabei zusehen, wie sie den Zwergen die Hütte sauberhält? Nein, Schneewittchen nimmt heute ihr Schicksal selbst in die Hand. In «Mirror, Mirror» helfen ihr sieben Kleinkriminelle (aka die sieben Zwerge) dabei, einerseits die böse Königin vom Thron zu stürzen und andererseits den Prinzen für Schneewittchen zu gewinnen, in den sich auch die Königin verliebt hat. Was dabei herauskommt, ist vor allem Klamauk.
Zwerge ohne Lebenssinn
Düsterer geht es in «Snow White and the Huntsman» zu und her. Im furchterregenden, abgestorbenen Wald hausen Trolle und wachsen sinnesvernebelnde Pilze (Albert Hoffmann lässt grüssen…), die Königin namens Ravenna ist eiskalt, saugt Jungfrauen aus, um jung und schön zu bleiben, und verwandelt sich ab und an in einen Raben (hallo Krabat!), während sie ihre Untertanen mit Freude unterdrückt, die davon leben, herrschaftliche Kutschen auszurauben (auch das kommt uns irgendwie bekannt vor).
Schneewittchen wächst, nachdem die Königin ihrem König in der Hochzeitsnacht eigenhändig einen Dolch ins Herz gerammt hat, im Kerker auf. Mit 18 Jahren gelingt ihr die Flucht. Ein Jäger, angeheuert, sie zu finden und zu töten, wird zu ihrem Freund und hilft ihr, zum einzigen Fürsten zu gelangen, der der Königin Widerstand leistet. Irgendwann treffen sie auf ihrer Reise auch noch auf die obligaten Zwerge, die aber schon lange nicht mehr nach Gold graben, sondern auf der Suche sind nach ihrem Lebenssinn.
Neu an «Snow White and the Huntsman» ist aber nicht nur, dass Schneewittchen ein Schwert zu gebrauchen weiss, sondern auch, dass der Kuss des Prinzen für einmal keine Wach-mach-Kräfte besitzt. Nein, hier darf der Jäger ran!
Nach diesem Film ist klar: Das heutige Schneewittchen braucht vom alten Schneewittchen nur noch den Namen und die Andeutung der Rahmenhandlung. Dies ist nicht einmal mehr eine alte Geschichte, neu erzählt. Und auch keine Fortsetzung, die erst beim «…und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende» anfängt. Hier geht es, ganz zeitgemäss, nur um die Frage nach dem Verlust der Schönheit. Denn wer diese besitzt, besitzt die Macht. Ein lapidare Feststellung. Das Magische, das Märchen ausmacht, bleibt trotz aller Fantasiegestalten in einem Film, der vor allem auf Action setzt, auf der Strecke. Schneewittchen wurde für eine neue Generation entzaubert.