Schreiben, um sich selbst zu sehen

Max Frischs «Berliner Journal», das bislang unter Sperrfrist stand, ist nun in Auszügen erschienen. Das Buch bietet mehr als Einblicke in das Leben eines alternden Pfeifenrauchers.

Max Frisch und Uwe Johnson, 1972 wie Pech und Schwefel in Berlin. (Bild: Keystone)

Max Frischs «Berliner Journal», das bislang unter Sperrfrist stand, ist nun in Auszügen erschienen. Das Buch bietet mehr als Einblicke in das Leben eines alternden Pfeifenrauchers.

Ein bisher unveröffentlichtes Tagebuch von Max Frisch ist erschienen! Es entstand in den Jahren 1973–1980, zu deren Beginn Frisch und seine Frau Marianne Oellers eine Eigentumswohnung in Berlin bezogen. Wie aus den früheren Tagebüchern bekannt, führt Frisch in alle Richtungen Buch: über seine Begegnungen mit dem schwierigen Kopf Günter Grass und seinen euphorischen Austausch mit Uwe Johnson, beide Nachbarn im Literatenviertel Friedenau. Über Versuche, ohne Alkohol zu leben (die Gesundheit…), und darüber, wie sich das Schreiben und sein Interesse daran durch die Jahre ändern. Immer wieder treibt es ihn ins Ost-Berlin der DDR, wo er Wolf Biermann und Christa Wolf trifft und von der Neugier nicht loskommt, wie ein authentisches Leben im Überwachungsstaat möglich ist. Und jetzt schon Kult: seine Fantasie, wie sich die Berliner Mauer in Zürich ausnehmen würde. 

Eine Sensation! Ist es? Im Jahr 2010 erschien ein Band mit dem Titel «Entwürfe zu einem dritten Tagebuch», herausgegeben durch Peter von Matt. Vorausgegangen war ein Streit mit Adolf Muschg, wie von Matt Stiftungsrat der Max-Frisch-Stiftung, der sich gegen eine Publikation ausgesprochen hatte. Der Text, der zur Debatte stand, war von einer Sekretärin Frischs ins Archiv gelangt und über Telefon diktiert worden. Frisch selbst hatte alle Dokumente vernichtet. Von Matt setzte sich durch, ein Buch entstand, und Iris Radisch fand in der «Zeit» die versöhnliche Formel: «Frisch wird uns sicherlich verzeihen, wenn wir diese altersmüden Notate jetzt mit grosser Anteilnahme lesen.»

Ein ausgearbeitetes Werk

Diesmal ist die Lage anders. Frisch betont in Briefen, dass es sich beim «Berliner Journal» nicht um beiläufige Notizen handelt, sondern um ein ausgearbeitetes Werk. Er selbst veröffentlichte es dennoch nicht, da es persönliche Darstellungen seiner Ehe sowie zahlreicher Schriftsteller enthält, und belegte das Journal mit einer Sperrfrist bis 20 Jahre nach seinem Tod. Die lief 2011 ab, und Thomas Strässle, inzwischen Präsident im Stiftungsrat, besorgte die nun vorliegende Ausgabe. Seine Auswahl beschränkt sich auf Aufzeichnungen aus den Jahren 1973 und 1974 und spart einige Passagen aus «persönlichkeitsrechtlichen Gründen» aus. Über die Willkür dabei belustigt sich Volker Weidermann in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung»: Der Stiftungsrat verfüge, wie es ihm gerade passe – während Frisch betont hatte, man könne seine aphoristischen Aufzeichnungen auf keinen Fall auseinanderpflücken.

Man kann also auch über die jetzt vorliegende Veröffentlichung streiten – doch eine weitere Frage drängt sich auf: Sind wir empfänglich für einen pfeifenrauchenden, männlichen Intellektuellen, der, wenn auch sprachlich präzise, mit seinem Alter hadert? Und ausgerechnet für Max Frisch, der mit immer neuen Wohnorten und immer jüngeren Frauen selber nach Verjüngung suchte? Selten spöttelten wir so gern über die alten Männer der Literatur wie heute. Allen voran von Günter Grass und Martin Walser haben wir genug, sei es, wenn sie die griechische Zugehörigkeit mit klassizistischen Versen beschwören oder sich auf die Bühne der Frankfurter Buchmesse ein Glas Wein kommen lassen müssen. 

Frischs Person ist auf eine Weise zweitrangig

Natürlich trifft man im «Berliner Journal» den hadernden Alten an. Frisch nimmt sich als verfetteten Typen wahr, der als Mariannes Ehemann zunehmend grotesk erscheint. Erlebnisse findet er nur noch im Schreiben, welches zwar zunehmend präzise, aber zugleich körperlos werde. Klingt übel. Doch Frischs Hadern wird nicht aufdringlich, die Lektüre zwingt nicht zum Mitgehen. Man könnte sagen: Das Hauptthema des Buches sind die Schilderungen seiner Kollegen aus Ost- und West-Berlin. Doch das ist nicht mal der Punkt. Denn wenn Frisch über sich selbst schreibt, so geht es nicht vorrangig um seine Person. Es geht eher um eine Form der Aufmerksamkeit und Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber. Immer wieder fragt Frisch nach der Existenz des Schriftstellers. Die Antwort, die sich aus seinem Text ergibt, ist nicht romantisch, sondern ganz trocken: Ein Schriftsteller lebt nicht irgendwie anders, sondern er macht eine Kunst daraus, über dieses Leben zu berichten. Wie dieses Leben beschaffen ist, ist zweitrangig. 

Beim Lesen hat man daher selten das Gefühl: So ist Frisch. Sondern: So bin ich. Auch wenn man nicht gerade eine neue Wohnung in Friedenau einrichtet, mit Uwe Johnson verkehrt und eine 28 Jahre jüngere Frau hat. Häufig stellt sich eine Assoziation ein, drei Sätze weiter taucht sie im Text auf. Umgekehrt findet man sich, wenn man das Buch nicht in der Hand hat, bei Gedankengängen wieder, die von Frisch stammen könnten. 

Beim Lesen hat man selten das Gefühl: So ist Frisch. Sondern: So bin ich.

Aus dieser Arbeit an der eigenen Redlichkeit ergibt sich auch das Thema, das sich durch alle Stränge des Buches zieht, seien es die Besuche in Ost-Berlin oder die Begegnungen mit Friedenauer Kollegen: Frischs Nachdenken darüber, wie jemand Gespräche führt. Am stärksten ist das Porträt von Uwe Johnson, Frischs wichtigstem Gesprächspartner in dieser Zeit. «Hart und herzlich», beschreibt er ihn, «und voll Fantasie, die sich spontan formuliert. Ein Kopf, in dem unentwegt etwas vorgeht und sehr rasch. Dabei kann er zuhören; er hört sofort etwas heraus, Anspielungen, die ich nicht gemacht habe, und geht darauf ein.» 

Das Gegenteil stellt Frisch fest, wenn jemand sein Wissen mitteilt ohne das Interesse, einen neuen Gedanken daraus zu entwickeln. Manchmal bei anderen, manchmal bei sich selbst. Gespräch zur Darstellung statt zur Erkenntnis. Es ist eine Art von Aufmerksamkeit und Spontaneität, die ihm einen Menschen interessant macht oder einen gemeinsamen Abend unerträglich. Mit derselben Haltung versucht Frisch, sich selbst zu beschreiben. So tritt er uns im «Berliner Journal» entgegen, der alternde Frisch.

Im Grunde gibt er sich literarisch tatenloser und krisenhafter als er ist, wenn er schreibt: «Ich will heute Abend versuchen, ohne Alkohol durchzukommen, ohne einen einzigen Tropfen. Das sind meine Aufgaben.» Immerhin entsteht in der schwierigen Zeit das vorliegende Tagebuch und damit der Wunsch, nicht über Erfundenes zu schreiben, sondern nur über das, was der Fall ist. Im selben Jahr, 1974, lernte Frisch in New York die junge Amerikanerin Alice Locke-Carey kennen und schrieb einen wahrheitsgetreuen Bericht über ein gemeinsames Wochenende auf Long Island: «Montauk» ist sozusagen aus dem «Berliner Journal» hervorgegangen.

 

Aus dem Berliner Journal
«In letzter Zeit (vorallem in fremder Umgebung, z.B. nicht in Zürich) oft die plötzliche Erinnerung an Menschen, unverlangt. Fakten; sie fallen mir ohne Anlass ein. Was ich in meinem Leben alles nicht wahrgenommen habe. Wie brutal ich in bestimmten Situationen war, wie naiv und unbewusst, ebenso wahnwitzig in der Selbstgerechtigkeit wie in der Ungerechtigkeit gegen mich selbst, unwissend ohne auch nur eine Ahnung davon, wie unwissend ich lebte, wie blind, wie übermütig, wie vorsichtig, wie blöd, wie begabt. Jetzt Memoiren schreiben (nicht zur Veröffentlichung) wäre das Abenteuer, das noch möglich ist; es würde mich packen und umdrehen, glaube ich. Ich hätte ein Leben hinter mir, eines, das mich noch einmal interessiert, weil ich es nicht kenne. Es hiesse vorerst, sich selbst verlieren. Wo die Gegenwart nicht viel auslöst an Gefühl, plötzlich kommt es aus dem Vergangenen-Vergessenen: Gefühl, das sich ausdrücken möchte. So vielerlei ist gelebt worden und verschüttet, indem man weiterlebte. Ich müsste jetzt jeden Tag um sechs Uhr aufstehen, es eilt, es ist aufregend. Ich habe mir mein Leben verschwiegen.»
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«Wolf Biermann hat zwei gute Räume, viel an den Wänden, Fotos vom Vater (Haftfotos) bis Lenin, Poster, Texte, Malerei von Freunden, Drucke, ein Che Guevara auch, Einstein mit Zunge. Ein kleines Billard. Ledersessel, alt und dunkel, ein grandlit, daneben die diversen Bandgeräte; ein Studio zum Leben. Keine Inszenierung, glaubwürdig als Kruste einer lebendigen Person, einer vorerst stillen Person. […] Seine jetzige Gefährtin, Grafikerin bei VOLK UND WELT, vorgestern entlassen: weil sie mit Biermann lebt. Und eine Serie solcher Geschichten; Jürgen Rennert erzählt seine Erfahrungen mit dem Schriftstellerverband, Biermann von einer Sitzung des PEN-Clubs; kein Lamento, wenn sie berichten, ‹gleichgültig wer uns jetzt abhört›, sagt einer und unterschlägt keinen Namen. Auch wenn ich schon etliches weiss, doch die Verwunderung jedesmal, wie sie unter dieser Repression leben. Eine andere Repression als bei uns. Jeder kann hier jeden fällen. So viel Charakter, um ihn in einem solchen Betrieb nicht zu verlieren, hat der Mensch von Natur nicht. ‹Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um.›»

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«Aus dem Berliner Journal». Herausgegeben, mit einem Nachwort und Kommentar versehen von Thomas Strässle. Erscheint am 20. Januar bei Suhrkamp. 235 Seiten.

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