Schrill, schriller, Skrillex

Elektronische Musik feiert in den USA als EDM zurzeit eine spektakuläre Wiedergeburt – allerdings jenseits von Szene, Tradition und gutem Geschmack.

Genauso schrill wie sein Name ist auch seine Erscheinung: Sonny Moore und sein Alter Ego Skrillex. Hat man ihm die EDM-Renaissance in den USA zu verdanken? (Bild: Ferdy Damman)

Elektronische Musik feiert in den USA als EDM zurzeit eine spektakuläre Wiedergeburt – allerdings jenseits von Szene, Tradition und gutem Geschmack.

Wo Sonny Moore auch hinkommt, erwartet ihn dieselbe Szenerie: Tausende kreischender Teens und Twens. Dabei ist Sonny selber gerade mal 24 Jahre jung – und keineswegs Boygroup-Mitglied oder schmachtender R’n’B-Sänger, sondern – und das ist das eigentlich Neue an seinem Erfolg – «elektronischer Liveact/DJ».

Unter seinem Alias Skrillex gehört Sonny Moore zur Speerspitze einer neuen Bewegung, die in den letzten zwei Jahren in Nordamerika einen stellaren Aufstieg erlebt hat und sich anschickt, die überalterte, innovationsarme Hip-Hop- und Rock-Szene als Leitkultur der Jugendlichen abzulösen.

Pariser als Paten

EDM nennt sich das Phänomen in den USA: Electronic Dance Music. Doch wer nun glaubt, Techno und House kehrten dabei nach einem Vierteljahrhundert Unterbruch, in denen die elektronische Musik zuerst Europa, dann den globalen Underground erobert hat, in ihre Heimat zurück, liegt falsch. Denn EDM hat so viel mit der schwarzen Subkultur der 80er, mit den Keller-Clubs und Fabrikhallen Detroits und Chicagos gemein wie Blues mit Stadionrock: also nicht mehr allzu viel.

Pate standen für EDM vielmehr die Kommerzausläufer der elektronischen Musik Europas: Konkret wären dies der poporientierte Electro-House eines David Guettas mit seiner hyper-glamourösen Verpackung, der «French House» à la Daft Punk und dessen Fortführung als «New Rave» unter Federführung des Pariser Duos Justice sowie die «Wobble»-Fetischisten in Londons Dubstep-Clubs, welche die Suche nach der am dynamischsten wabernden Bassline zum heiligen Gral erklärten.

Insbesondere von letzterer Brigade zeigte sich auch Moore (früher Sänger von Emo- und Screamo-Bands wie From First to Last) schwer beeindruckt, als er die Szene auf Tour kennenlernte. Zurück in den USA, experimentierte er mit den typischen Sägezahnschwingungen des Dubstep-Sounds, verband diese Spielereien allerdings mit hyperaktiven Breakbeat-Patterns und emotional aufgeladenen Versatzstücken des Nu Metal: Und siehe da – bereits mit seiner ersten EP «My Name is Skrillex» (2010) traf er mitten ins Herz des US-Publikums.

Ein kommerzieller Urknall

Heute haben Hits wie «Scary Monsters & Nice Sprites» Platinstatus, Moore besitzt drei Grammys und füllt mühelos Sporthallen – «sogar in Staaten wie Arkansas, wo es bisher nie etwas anderes als Rockclubs gab». Mit diesem scheinbar aus dem Nichts kommenden Erfolg ist Skrillex aber nicht alleine: Bisher als Mashup/Crossover-Acts geltende Aushängeschilder wie Deadmau5, Guetta, Swedish House Mafia (die sich soeben «mangels unerreichter Ziele» auflösten) und Steve Aoki, die das EDM-Potenzial früh erkannten und den Fokus auf aufwendige Shows legten, haben eine Art Urknall provoziert.

EDM boomt – und seit Festivals wie der Electric Daisy Carnival in Las Vegas 250 000 Besucher anziehen, pilgern auch Majorlabel-Abgesandte an Business-Musikmessen wie die (vom spanischen Sonar-Festival inspirierte) Winter Music Conference in Miami. Kein Nebenschauplatz: Denn mit dem Einstieg der Entertainment-Multis könnte EDM in den USA bald eine ganz neue Marktmacht besitzen.

Ausgerechnet in den USA, dem bis anhin schwierigsten Pflaster für elektronische Musik, herrscht Goldgräberstimmung: Jahrzehnte nach den frühen Erfolgen von Kraftwerk und 15 Jahre nachdem mit The Prodigy letztmals ein elektronisches Projekt mit «The Fat of The Land» die Billboard-Charts stürmte, stehen die Zeichen ennet des Teichs nun also gut für eine Renaissance elektronischer Tanzmusik.

Backlash und Shitstorm

Wie aber reagiert Europa? Gelinde gesagt: mit Konsternation. Als Erstes begehrte die englische Dubstep-Community auf, taxierte den US-Dubstep abfällig als «Brostep», als «aggressive, kommerzielle Kopie für Rock-Brüder» und damit als «Musik ohne Szene». Die rasante Ausbreitung der mainstream-orientierten Spielart weckt denn auch Erinnerungen an den Totalausverkauf der Rave-Szene in den 90ern.

Daneben stellt sich aber eine viel grundsätzlichere Frage: Denn obwohl der Erfolg der EDM-Bewegung auf Live-Auftritten basiert, fragt sich, was «live» hier überhaupt bedeutet, wenn audiovisuelle Effekte bis ins Detail vorproduziert und -programmiert sind, wenn Grös­sen wie Deadmau5 gar zugeben, bei Auftritten oft nur «Play» zu drücken?

Der Verdacht, dass es sich bei EDM um einen Trend mit starker Entertainment-Schlagseite handelt, der weder Live-Musik noch DJ-Skills allzu hoch gewichtet, ist schwer von der Hand zu weisen. Skrillex’ Headbanging, Steve Aokis Tortenschlachten, Deadmau5’ selbstgesteuerter Mauskopf: allesamt Gadgets zur Massenanimation, die eher an die Eurodance-Playback-Shows der 90er erinnern als an traditionelle Clubkultur. Und so überrascht es wenig, dass auch der Backlash wächst, im Web 2.0 gar Shitstorm-Ausmass annimmt – und Skrillex bereits als «most hated man in Dubstep» («The Guardian») gilt.

Doch ist es zu früh, um das Fallbeil über EDM zu sehen? Handelt es sich gar um die erste Bewegung, die Kraftwerk und Jean Michel Jarre, Daft Punk und Justice im Showformat vereint, Live-Erlebnis und audiovisuelle Reize vollends zum Sinnesspektakel verschmilzt? Das Gipfeltreffen von Kraftwerk, The Prodigy und Skrillex am Openair Zürich dieses Wochenende wird dazu erste Einsichten liefern.

  • Openair Zürich, Do, 23.08. bis So 26.08., mit u.a. Kraftwerk, The Prodigy, Skrillex uvm. 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 24.08.12

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