«Sexualität ist ein lebenslanger Lernplatz»

Die Filmindustrie entdeckt derzeit die Sexualtität neu. Eine Prostituierte ging ins Kino und spricht nun über Sex im Zeitalter der Käuflichkeit.

Unter vier Augen: Im Film «Neuland» wird die Prostituierte Mia (Luna Mijovic, links) von der Frau eines Freiers ausgefragt.

Derzeit beleuchten gleich mehrere Filme den Umgang mit der Sexualität. Unser Filmfachmann ging mit einer Prostituierten ins Kino und befragte sie anschliessend über Realität und Fiktion zwischen Ehebett und Rotlicht-Lokal.

«La vie d’Adèle» von Abdellatif Kechiche macht mit einigen expliziten Bettszenen darauf aufmerksam: Nicht nur die Rollen von Frau und Mann verändern sich, auch die der Sexualität in der Gesellschaft. In «Traumland» schildert die Schweizerin Petra Volpe das Fest der Liebe und die käufliche Liebe in Zürich. Mit «Nymphomaniac» trägt nun Lars von Trier eine weitere Provokation zum Thema bei. Ist das Kino einem Trend zu mehr Offenheit auf der Spur? Oder zeigt sich eine neue Prüderie? Wird unser Alltag sexualfeindlicher – oder ist unsere Welt über alle Massen sexualisiert?

In Basel gibt es an die 4000 Sex-Workerinnen. Eine von ihnen hat sich bereit erklärt, ihre Sicht aufzuzeigen: Wie sieht es mit den Veränderungen in der Gesellschaft aus? Wie sieht eine Frau, die sich als Dienstleisterin versteht, die Entwicklung im Verhältnis der Geschlechter und wie ist ihre Haltung zur (käuflichen) Liebe? Seraphine (der Name ist der Redaktion bekannt) ist seit einem Jahrzehnt in Basel als Prostituierte tätig. Die TagesWoche hat mit ihr nach dem Besuch von «Traumland» von Petra Volpe ein Gespräch geführt.

Frau S., gehen Sie oft ins Kino?

Eigentlich nie.

Sie haben jetzt eben «Traumland» gesehen. Darin geht es um das Fest der Liebe und – die käufliche Liebe. Sie arbeiten selber in diesem Gewerbe. Wie ist Ihr Eindruck?

Es gibt Dinge, die sehe ich aus meiner Sicht genau so wie im Film. Nicht jeder Mann taugt für eine lebenslange monogame Ehe. Auch nicht jede Frau. Darin stimme ich mit «Traumland» überein. Aber ich ziehe andere Schlüsse. Warum soll denn ein Mann nicht fremdgehen? Er muss ja niemanden verletzen.

Wie lange sind Sie schon in Basel im Sexgewerbe?

Ich begann vor neun Jahren. Kaum war ich da, holte mich die Polizei zum Interview ab. Das machen die ganz nett. Sie wollen von den Neuen wissen, ob man sie unter Druck setzt. Der Kriminalbeamte sagte mir damals, dass zirka 1200 offizielle Sexworkerinnen in Basel arbeiten. Dazu kommen 300 Hausfrauen-Prostituierte plus 200 Illegale. Total waren das also rund 1700 vor zirka zehn Jahren. Das hat sich inzwischen sehr verändert. Mittlerweile sind etwa 3500 Frauen registriert, dazu kommen noch viele Illegale. Das sind also wohl dreimal mehr Frauen. Die Zahl der Kunden ist aber nicht gewachsen. Der Kuchen ist für jede einzelne Frau kleiner geworden.

Wie drückt sich die Verschärfung der Konkurrenz aus?

Die Preis sind ins Bodenlose gefallen. 40 Franken sind für eine moldawische Frau unglaublich viel Geld. Und es gibt immer mehr Wanderarbeiterinnen.

Wanderarbeiterinnen, so wie polnische Bauarbeiter, die hier unter dem Mindestlohn arbeiten?

Prostitution ist ja auch fast zur Wanderarbeit geworden.

«Was Prostituierte zu bezahlen haben, ist geregelt, der Schutz aber nicht.»

Wie reagieren die Behörden auf diese Situation?

Ich kenne vor allem die Situation in Deutschland. Hier haben die Steuerbehörden die Schraube angezogen. Jede Frau, die in Deutschland gemeldet ist, zahlt den Steuerbehörden 25 Euro. Die muss der Puffbesitzer eintreiben. Egal, ob sie was anschafft oder nicht. Wer so ein Puff betreibt, muss also erst mal für jedes Mädchen 25 Euro abknipsen und in einem Couvert an die Polizei abliefern. Plus Vergnügungssteuer.

Vergnügungssteuer?

Ja. Immerhin geht man dort davon aus, dass eine sexuelle Dienstleistung auch etwas Schönes sein kann. Die Vergnügungssteuer wird kommunal erhoben – nach Quadratmetern. In Deutschland ist das von Bundesland zu Bundesland verschieden. In der Schweiz dagegen wird nach Buchhaltung besteuert. Einkommen und Vermögen müssen nachgewiesen werden.

Geniesst dafür eine Frau auch einen gewissen Schutz?

Nein, es gibt für Frauen, die sexuelle Dienstleistungen anbieten, kaum verlässliche Arbeitsbedingungen. Was sie zu bezahlen haben, ist geregelt, der Schutz aber nicht.

Wie sollte das geregelt werden? Durch Tarifverträge oder Mindestpreise für die Angebote?

Das regelt die Strasse, das kann man nicht allgemein regeln. Das muss jede Frau in der Verhandlung klar machen. Aber das ist ein interessanter Gedanke: Das könnte ja dann wie bei den Ärzten funktionieren. So eine Art Taxpunkte. Dazu müsste aber die schwache Mehrheit der 52 Prozent Frauen in der Bevölkerung akzeptieren könnten, dass Männer nicht zwingend monogam sind, dann wäre das leichter durchzusetzen. Aber Frauen empfinden das Gewerbe als Konkurrenz. Viele Männer sagen mir, ich habe eine tolle Frau, ich liebe diese Frau, aber sie hat einfach keinen Bock mehr nach 40 Jahren. Das ist die Realität. Auch wenn sie nicht gern gesehen wird.

Sie kommen aus Deutschland. Wie viele Sexworkerinnen gibt es dort?

Rund 500’000, davon sind zirka 300’000 mobil.

Das heisst auf der Strasse?

Nicht zwingend. Die werden von den Zuhältern oder den Leuten, denen sie das Geld abdrücken müssen, entweder in Mietwohnungen untergebracht, wo sie in der Regel eine Woche bleiben. Die Wohnungsprostitution hat aber an Bedeutung verloren. Der Trend geht zu Saunaclubs – die Männer wollen sparen. Ich kenne die Betreiberin des grössten Saunaclubs in der Nähe von Stuttgart. Ein Teil der Frauen wird dort am Abend abgeliefert und am morgen wieder abgeholt.

«Ich kann mit meinen Kunden reden. Die Einsteigerin kann das heute meist nicht.»

In «Traumland» versteht Mia die Landessprache nicht, kann sie hier selbstständig arbeiten?

Die Schweiz ist ein freies Land. Dennoch bewegt sich eine Prostituierte wie diese Figur Mia auch in der Schweiz in einem sehr exponierten Feld. Sie kann sich hier nicht frei bewegen, weil sie ein Sprachproblem hat. Es gibt Mädchen, die kein Wort Deutsch sprechen. Die haben oft schon in Ungarn, Moldawien oder Rumänien im Gewerbe gearbeitet und wissen genau, was auf sie zukommt. Diese Frauen werden nicht verschleppt, sondern kommen mehr oder weniger freiwillig hierher – wegen des Geldes. In Rumänien verdient eine Frau bloss zwei Euro pro Tag.

Dann ist diese Mia hier sicherer als in Ungarn?

Die Frauenorganisationen, die sich mit Zwangsprostitution beschäftigen, wissen das auch: Frauen, die hierher kommen, brauchen hier Hilfe. Diese kriegen sie oft von der falschen Seite, denn die Frauen sind ein leichtes Ziel für die Zuhälter. Eine freie Frau, die die hiesige Kultur kennt, braucht keine solchen Beschützer mehr. Ich bin da längst drüber hinweg. Ich habe eine ganz andere Klientel. Ich kann mit meinen Kunden reden. Die Einsteigerin kann das heute meist nicht.

«Traumland» zeigt Paare, die nur eine kleine Chance haben, zusammen sexuell alt zu werden. Was fehlt den Leuten?

Männer und Frauen geben sich das Jawort im Liebestaumel. Die fragen sich da nicht: Kann ich diesen Menschen noch in 30 Jahren ebenso besinnungslos begehren? Das verlangt ja auch viel Fantasie. Die meisten Paare müssen also eine enorme Entwicklung machen, wenn sie gleichbleibend verliebt bleiben wollen. Wenn sie sich lieben, ist das was anderes. Aber wenn sie sich nur gefunden haben? Dann müssen sie viel verdrängen. Rolf sieht sich im Film plötzlich nach einer jungen Frau um. Vielleicht hätte ihm eine Paartherapie geholfen. Seine Frau hätte ja davon auch profitiert. Doch der Mann geht ins Puff. Und wenn das rauskommt, dann brennt der Baum.

«Es gibt Männer, die verstecken ihren Gang ins Puff fast vor sich selbst.»

Frauen sollen verstehen, dass ihre Männer ins Puff gehen?

Fragen Sie mal die Männer! Die älteren Partnerinnen gehen davon aus, das bei ihm die Lust eingeschlafen ist. Und er bestärkt sie in dem Glauben. Dabei sind die hochaktiv. Aber durch den Mantel des Schweigens kommt das nicht durch. Genau deshalb ist unser Gewerbe doch so geheim. Es gibt Männer, die sagen mir nicht mal ihren richtigen Namen. Die verstecken ihren Gang ins Puff fast vor sich selbst.

Wenn 4000 Frauen in Basel pro Tag je fünf Kunden haben, wären das 20’000 Männer, die abends zu ihren Familien zurückkehren. Ein gut besuchtes Joggeli …

Männer akzeptieren, dass sie nicht monogam sind. Männer entwickeln Strategien, die sind zielorientiert.

Frauen nicht?

Warum soll ein Mensch nicht fremdgehen? Wir haben leider nur keine Kultur dafür. Es gibt Frauen, die kennen ihre Männer nach 30 Jahren Ehe nicht. Die leben in Illusionen.

Sie verteidigen die Männer.

Nein, ich finde bloss, dass der Mann, der zu einer Prostituierten geht, nicht zwingend ein Schwein ist. Die Typen versuchen bloss, für sich eine Lösung zu finden, um in einer Gesellschaft zu leben, die Sexualität unterdrückt und zu einem Geschäft macht. Wie alles, was Spass macht. Wenn die Gesellschaft sexuell frei wäre, hätte ich keinen Job mehr.

Manche Länder versuchen der Prostitution mit Verboten beizukommen. Was halten Sie davon?

Ja, in Schweden zum Beispiel. Die Prostitution existiert aber trotzdem: In Stockholm tarnen sich die Begleitservices neu als Sekretärinnenschulen.

Sekretärinnenschulen?

Eine Zeitlang waren es die Massagesalons, wo auch ein «Happy Ending» angeboten wurde. Das wurde dann auch verfolgt. Die Franzosen haben zur Zeit der sozialistischen Regierung alle Bordelle geschlossen. Es gibt nur noch den Strassenstrich. Prostitution ist eine gesellschaftliche Realität, sie existiert ungeachtet aller Verbote.

«Wenn die Gesellschaft sexuell frei wäre, hätte ich keinen Job mehr.»

Wie müsste sich die Gesellschaft verändern, damit Prostitution überflüssig wird?

Auch die Frauen müssten sich verändern. Sie müssten ein Verhältnis zur Polygamie entwickeln. Wir arbeiten nicht an unserer sexuellen Intelligenz.

Es braucht also mehr Sexualbildung?

Ja. Warum nicht ein Seminar von einem Profi für Menschen verschiedenen Alters? Es gibt heute zwar Tantra-Kurse, aber keine Seminare für Sexualsprache. Wie gehe ich mit dem Alter um? Was ist meine Fantasie beim Onanieren? Es reicht nicht, wenn man das bei Nancy Friday nachliest. Man muss darüber reden lernen. Wie geh ich damit um, wenn der erotische Taumel in der Beziehung schwächer wird? Was waren unsere Schlüsselerlebnisse? All das könnte zu mehr Sexualfreundlichkeit führen. Der Feminismus ist in dieser Frage in eine Sackgasse geraten.

Wie meinen Sie das?

Die Frauenbewegung ist prüde geworden. Alice Schwarzer erklärte einst jungen Studentinnen, sie selber habe für umgerechnet zwei Euro pro Stunde geputzt – inzwischen hat sie Millionen verdient. Jede Lohnarbeit hat etwas von Prostitution. Man setzt seinen Körper für eine Dienstleistung ein. Vielleicht müsste man grundsätzlich die Arbeit gegen Lohn in Frage stellen.

Um zu verhindern, dass Arbeiter dort Arbeit suchen, wo sie mehr Geld dafür verdienen?

Arbeiter können in der Regel ihre Muskelkraft verkaufen. Die Muskelkraft der Frauen ist wenig gefragt. Also verkaufen sie Fingerfertigkeit oder ihre schnellen Zungen. Auch in Ländern, wo sie die Sprache nicht verstehen. Darüber redet man aber nicht in dieser Gesellschaft. Man redet fast so wenig ehrlich über Geld wie über Sex.

Kann man denn ehrlich über Sexprobleme sprechen?

Wir bewegen uns in einem emotional verklärten Bereich. Die Sexualität der Männer hat sich nicht weiterentwickelt. Sie müssten endlich einsehen, dass sie nicht nur im Taumel der Verliebtheit mit Frauen ins Bett wollen oder um ein Kind zu zeugen. Sie müssten nur lernen, dass Sexualität ein lebenslanger Lernplatz ist. Das könnten Männer auch mit ihren Frauen lernen, wenn sie mit ihren Frauen darüber reden könnten.

Wie soll ich mir das vorstellen?

Ich glaube, ich könnte Frauen in Seminaren sehr viel erzählen darüber, wie ihre Männer ticken. Ich sehe mich ja nicht als Ehezerstörerin. Ich wäre froh, wenn ein Mann, der versucht, aus seiner Einsamkeit zu fliehen, Wege fände, sich mit seiner Partnerin weiterzuentwickeln. Sind Männer einsam in ihren Beziehung, sind sie gefährdet. Das sieht man ja auch in «Traumland». Rolf sorgt aus einer tiefen Einsamkeit heraus für Mia. Die Gattin, die den Mann ertappt, setzt ihr Familienleben nicht wegen eines solchen Vorkommnisses aufs Spiel. Obwohl ihr Gatte nichts gelernt hat! Er kann ja mit seiner Einsamkeit schon in der Ehe nicht umgehen.

«Man redet fast so wenig ehrlich über Geld wie über Sex.»

Warum machen die Männer das selten selbst mit ihrer Umgebung aus?

Die reden ja nicht darüber und die Frauen auch nicht. Auch wenn das in «Traumland» anders aussieht: Da reden die Eltern sogar in Anwesenheit des Kindes darüber. Das fand ich entsetzlich. Hingegen war da eine wichtige Szene, als die Gattin auf dem Strich bei der Prostituierten herauszufinden versucht, was da eigentlich passiert. Die Notwehr dieser Frau ist grandios, sie geht ihre schwierige Lage an, das ist sehr schön geschildert. Auch der Mut dieser Frau. Es kommt bei mir nicht oft vor, dass eine Frau anruft. Wenn eine Frau anruft, weiss ich meistens, jetzt gibt es Stress.

Wie erkennen Sie, dass die Frau eines Kunden anruft?

Die erste Frage lautet meist: «Wer sind Sie?» Sie hat das Handy-Display ihres Mannes durchsucht. Ich würde für keine Frau die Hand ins Feuer legen, dass sie das nicht tut.

Und was sagen Sie dann?

Ich antworte mit einer Gegenfrage: «Wen möchten Sie denn sprechen?»

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