Slow-Food-Gründer Carlo Petrini spricht im Interview über nachhaltige Ernährung, Briefe von Papst Franziskus und die Ansicht, dass wir alle zu dick sind.
Wie können angesichts einer rasant wachsenden Weltbevölkerung und einer sich verändernden Umwelt genügend Lebensmittel für alle bereit gestellt werden? Mit Fragen wie dieser beschäftigt sich auch die Expo in Mailand. Carlo Petrini tritt für ein Umdenken ein. Nicht nur Essen, sondern gutes Essen sei ein Menschenrecht.
Carlo Petrini, die von Ihnen gegründete Slow-Food-Bewegung tritt für nachhaltige Ernährung ein. Was ist das?
Petrini: Nachhaltige Ernährung bedeutet, die Verschiedenheit hervorzuheben. Jede Küche hat ihre Eigenheiten, die es zu wahren gilt. Hamburger kann man in der ganzen Welt essen. Das ist die Negation der Verschiedenheit. Die Artenvielfalt hat nicht dieselben Finanzmittel wie die multinationalen Konzerne. Wir müssen die Verschiedenheit schützen und die Augen offen halten.
Warum sollten wir deshalb unsere Ernährung umstellen?
Wir müssen unseren Lebensstil ändern. Es ist unverantwortlich, 120 Kilogramm Fleisch pro Kopf im Jahr zu verzehren wie die Amerikaner. Wenn wir uns alle so ernähren würden, wären drei Planeten wie die Erde für den Anbau von Futter nicht genug.
Wie kann man dieses Ziel erreichen?
Wir müssen uns erst einmal unserer Situation bewusst werden. Heute produzieren wir auf der Welt Nahrung, die für zwölf Milliarden Menschen ausreichen würde. Wir sind aber bisher nur sieben Milliarden. Das bedeutet, dass wir 40 Prozent der Lebensmittel wegwerfen. Wenn wir also endlich aufhören, von Steigerung und Wachstum zu reden, wäre bereits geholfen.
Warum aber sind immer noch Hunderttausende unterernährt?
Die Verteilung funktioniert nicht. Die Bauern werden ungerecht behandelt. Der Teil der Welt, in dem die Menschen einen vollen Bauch haben, interessiert sich einen Dreck für diejenigen mit den leeren Mägen.
«Heute produzieren wir auf der Welt Nahrung, die für zwölf Milliarden Menschen ausreichen würde. Wir sind aber bisher nur sieben Milliarden.»
Sie behaupten, es geht in erster Linie darum, unser Bewusstsein zu schärfen?
Es würde erst einmal genügen, einige unserer Verhaltensweisen zu verändern. Weniger Fleisch essen gehört dazu. Weniger wegwerfen. Das bedeutet, dass man Lebensmittel komplett konsumiert oder von vornherein weniger einkauft. Wir müssen nur mal in unsere Kühlschränke schauen! Im Übrigen hat das Kochen mit Resten eine grosse Tradition: Denken wir an die toskanische Ribollita, eine überbackene Gemüsesuppe mit Brot und Zwiebeln. Oder Knödel. Brot wirft man nicht weg! Man warf früher überhaupt nichts weg. Heute interessieren wir uns nicht mehr für den Wert eines Lebensmittels, sondern nur noch für seinen Preis. Dabei könnten wir die Welt verändern, wenn wir uns selbst verändern.
Nicht alle können sich qualitativ hochwertige und deshalb teurere Lebensmittel leisten. Ihre Kritik wirkt teilweise abgehoben…
Uns wird oft vorgeworfen, eine Art Öko-Elite zu sein und mit einem vollen Portemonnaie ausgestattet über die Welt zu urteilen. Aber darum geht es nicht. Alle Menschen haben das Recht, genügend und auch gut zu essen. Die Lösung ist: ein bisschen mehr zahlen, weniger wegwerfen und weniger essen. Wir sind doch fast alle zu dick! Wenn wir unsere Ess- und Einkaufsgewohnheiten ändern, werden wir auch die Agrarwirtschaft beeinflussen. Umso besser, wenn wir dann auch noch glücklicher sind, weil wir gut gegessen haben.
Seit dem 1. Mai läuft in Mailand die Expo mit dem Motto «Den Planeten ernähren. Energie für das Leben». Auf den ersten Blick klingt eine Weltausstellung in Italien zum Thema Ernährung überzeugend. Überzeugt die Expo auch bei näherem Hinsehen?
Ich habe eindeutig mehr erwartet. Stattdessen haben wir es mit einer Art Kirmes zu tun. Die Inhalte fehlen völlig.
Was vermissen Sie genau?
Auf der Expo ist zu wenig von Ernährung im engeren Sinn die Rede. Wir haben es doch mit einem System zu tun, das hinten und vorne nicht funktioniert, in dem Verschwendung herrscht und in dem die kleinen Produzenten an den Rand gedrängt werden. Die Pavillons gehören den Nationen. Diese reichen den grossen Konzernen und Sponsoren die Hand. Also sind sie alle dabei: Coca Cola, McDonald’s und Ferrero. Ausserdem gibt es viele Restaurants, aber die Kleinen findet man nirgendwo.
«Mailand hatte die Chance, die erste grosse Expo der Ideen zu machen. Aber diese Chance wurde verpasst.»
Auch Slow Food nimmt an der Expo teil. Warum?
Das Motto der Ausstellung «Den Planeten ernähren» ist auch unser Thema. Das war schon überzeugend, sich dort zu engagieren. Wie kann man den Planeten schonen, nachhaltig wirtschaften, genügend Ressourcen erhalten und gute Nahrungsmittel für alle Menschen gewährleisten?
Ist das Konzept einer Weltausstellung heute noch zeitgemäss?
Ich bin mir da nicht sicher. Wenn es um Reflexion, um Begegnung und um den Austausch von Ideen geht, eigentlich schon. Aber wir haben es immer noch mit einer Weltausstellung alten Stils zu tun. Da kommen Millionen Menschen, um die Zukunft zu sehen. Mailand hatte die Chance, die erste grosse Expo der Ideen zu machen. Aber diese Chance wurde verpasst.
Was bedeutet die Präsenz von McDonald’s auf dieser Expo für Sie?
Wenn alle mitmachen dürfen, hat keine Auswahl stattgefunden. McDonald’s gibt es überall, in New York, in Mailand und in Düsseldorf. Da muss ich doch nicht auf eine Expo gehen. Die Frage ist: Wie soll man die Anstrengungen von kleinen Produzenten erklären, die Wert auf Nachhaltigkeit und Qualität legen angesichts einer Kette, die massenhaft Fleischsemmeln für 1,20 Euro verkauft? Das ist mein Problem.
«Es ist viel wichtiger, lokale oder regionale Produkte zu kaufen als Waren mit irgendeinem Bio-Siegel.»
Zuletzt forderte auch Papst Franziskus eine ökologische Umkehr. Was verbindet Sie mit ihm?
Wir schreiben uns Briefe, obwohl ich nicht gläubig bin. Der Papst ist sich bewusst, dass wir an einem historischen Punkt angelangt sind. Wenn wir nicht alle zusammen reagieren, droht unsere Mutter Erde schweren Schaden zu nehmen. Es geht um nichts weniger als die Zukunft der Menschheit. Wir zerstören die Ressourcen. Das ist eine Ungerechtigkeit gegenüber unseren Kindern und Enkeln. Das ist nicht nur ein katholisches Thema, sondern eine Frage, die alle etwas angeht.
Immer mehr Menschen kaufen Bio-Produkte und haben damit ein gutes Gewissen. Gut so?
Es ist viel wichtiger, lokale oder regionale Produkte zu kaufen als Waren mit irgendeinem Bio-Siegel. Denn wenn ich zum Beispiel die Bio-Birnen aus Argentinien bei uns im Bioladen kaufe, richte ich angesichts des Transports ein ökologisches Desaster an. Wir müssen die frische, lokale Produktion fördern.
Was ist mit Kaffee oder Schokolade? Manche Sachen kommen nunmal von weit her.
Natürlich brauchen wir Kaffee oder Schokolade. Wer nur lokale Produkte kauft, übertreibt. Ein bisschen Flexibilität muss schon sein, ich bitte Sie!
Was war das letzte aussergewöhnlich gute Gericht, an das Sie sich erinnern?
Es gibt fast nichts, das mir nicht schmeckt. Oft ist das Beste einfach ein Salamibrot. Ich mag am Liebsten simple Gerichte, das sind ja meist die schwierigsten.
Carlo Petrini (66) ist Gründer und Vorsitzender der Internationalen Slow-Food-Bewegung mit heute 150’000 Mitgliedern. Er gilt als Vater der Öko-Gastronomie und alternativer Ess-Papst. Petrini entstammt einem katholisch-kommunistischen Haushalt im Piemont. In seiner Heimatstadt Bra hat Slow Food heute noch seinen Sitz. Früher engagierte sich Petrini in der Politik und arbeitete als Gastronomie-Kritiker für die kommunistische Tageszeitung Il Manifesto.