Steven Wilson ist der neue Star am Progrock-Himmel. Am Sonntag singt er im Z7 Pratteln, die 1500 Tickets sind bereits ausverkauft. Kein Wunder: Der Brite überführt geschickt den Geist von Pink Floyd in die Gegenwart. Was er an Konzeptalben liebt, was an Nerds nervt, was er von Radiohead will: Das verrät er im Interview.
Dass Steven Wilson auf seiner Europatournee Halt in Pratteln macht, ist nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich sind die Nebengeräusche, die ihn diesmal begleiten: Wilson ist zum Hitparadenstar aufgestiegen. Zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres ist er auf Platz 3 der deutschen Albumcharts vorgestossen, angeschoben von den langjährigen Fans, wird er auch zunehmend vom Mainstream entdeckt und von grossen Medien gefeiert. Er sei der «Saviour» des Progressiven Rock, der Retter eines Genres, das todgedudelt schien.
«Klischees wie etwa Lieder über Hobbits liegen mir fern.»
Den Aufstieg aus der Nische hat Wilson völlig verdient. Sein neuestes Konzeptalbum ist fantastisch: «Hand. Cannot. Erase» erzählt die wahre Geschichte einer jungen Frau, die jahrelang tot in ihrer Wohnung lag, ohne dass sie jemand vermisst hatte. Vereinsamung in der Grossstadt, Entfremdung im Internetzeitalter, diese Gegenwart lädt Wilson mit Empathie und Dramatik auf, schiebt Beats drunter und Klangkaskaden darüber. So kreiert er atmosphärische Musik, die von Emotionen statt Mathematik angetrieben wird. Eine mehrheitsfähige Mischung, die schon Pink Floyd gross machte.
Tatsächlich hat er die grossen Bands sehr gut studiert, seine Musik weist aber auch Artverwandtschaften mit britischen Altersgenossen auf, seine aktuelle Single «Perfect Life» zum Beispiel würde auch gut auf ein Album von Archive passen.
Vor seinem Konzert in Antwerpen kann ich Wilson via Skype erreichen. Er werde überrannt mit Interviewanfragen, sagt er freundlich und nimmt vorweg, dass wir nicht stundenlang sprechen können. Kein Problem.
Steven Wilson, seit Sie unter ihrem eigenen Namen unterwegs sind, feiern Sie noch grössere Erfolge als mit ihrer langjährigen Band Porcupine Tree. Das ist nicht selbstverständlich.
Ich weiss, was Sie meinen … Ich glaube, viele Leute sehen meine Solo-Alben als eine Fortsetzung meiner früheren Arbeit. Porcupine Tree hatte ich ja vor über 20 Jahren schon als Soloprojekt gestartet.
Was brachte Sie denn dazu, sich von der Band zu trennen und solo weiterzumachen?
Ich wollte meine Bühnenperformance weiterentwickeln, visuelle Elemente stärker gewichten. Das führte innerhalb der Band zu Widerstand, denn eine spektakuläre Tourproduktion kostet Geld – was natürlich von den Gagen abgeht. Mir war das Geld auf Tour nicht so wichtig, und weil in einer Band Entscheide diplomatisch gefällt werden müssen, entschied ich mich, meinen Weg künftig als Steven Wilson weiterzugehen. So kann ich noch kompromissloser arbeiten.
Die Demokratie in der eigenen Band hat Sie blockiert?
Ja, man kann es so sagen. Aber ich will jetzt keinesfalls nur klagen, jeder in einer Band muss Kompromisse eingehen, das betraf ja nicht nur mich. Und wenn man sich als Band einigt und am gleichen Strick zieht, entsteht eine Verbundenheit, die sich grossartig anfühlt. Es kam einfach der Zeitpunkt, als ich meinen eigenen Weg gehen und dem Publikum noch magischere Shows bieten wollte.
Der Schritt hat sich gelohnt: Sie werden als Retter des Progressiven Rock gefeiert. Wird Ihnen das manchmal unheimlich?
Ehrlich gesagt: ja. Die Sache ist vertrackt: Die Menschen reagieren positiv auf meine Musik, die sie in einem Genre verorten möchten. Das aber widerstrebt wiederum mir selber und ist wohl ein Grund für meinen Erfolg: Ich will nicht die Stereotypen eines Genres wiederholen, auch wenn ich mit dieser Musik aufgewachsen bin. Sie sprechen von progressivem Rock, ich aber interessiere mich auch für elektronische Musik, Ambient, Jazz und Pop. All das habe ich auch in mein aktuelles Album gepackt.
Zugleich verhandeln Sie darauf die grossen Themen der kunstvollen Rockmusik, Entfremdung und Vereinsamung.
Ja, das stimmt. Ich sehe mich da in der Tradition von The Who, Pink Floyd oder Radiohead. Deren Konzeptalben «Quadrophenia», «The Wall» oder «OK Computer» drehen sich um vergleichbare Themen. Ich bin im guten und schlechten Sinn von der modernen Welt fasziniert. Was mir hingegen immer schon fernlag, waren die Klischees so genannter progressiver Musik: Lieder über Hobbits, Fantasywelten oder …
… Stonehenge…
… ja, genau! Dafür habe ich mich nie interessiert – und ich war auch nie ein Fan solcher Bands. Ich fühle mich Roger Waters, Pete Townsend, Thom Yorke oder auch Frank Zappa näher. Diese Leute schreiben über den Zustand der Menschheit, der Welt, des Planeten. Da findet sich schon genug Material.
Als Retter des Progrock gelten Sie auch, weil Sie Albumklassikern von Yes, King Crimson oder Jethro Tull neues Leben eingehaucht haben: In Form von Remixes. War das harte Arbeit oder eher ein Fan-Traum, der wahr wurde?
Beides. Ich nehme nur Aufträge an für Alben, zu denen ich mich stark hingezogen fühle. Grösstenteils Musik, mit der ich aufwuchs. Dennoch ist es auch immer harte Arbeit, denn man riskiert viel: Fans, die sich ein Album seit ihrer Kindheit, seit 40 Jahren immer wieder anhören, sind Gewohnheitstiere. Wenn ich ein solches Werk neu abmische, laufe ich Gefahr, deren Kindheit zu zerstören.
«Hinter dem Remix eines Albumklassikers steht viel Detektivarbeit.»
Tatsächlich?
Ja, wirklich. Daher versuche ich den ursprünglichen Sound so gut es geht zu reproduzieren. Welche Art Effekt wurde verwendet, wo steht welches Instrument im Stereospektrum? Takt für Takt. Das bedeutet viel Detektivarbeit, man muss analysieren, reproduzieren. Und trotz aller Leidenschaft entgehen mir auch mal Sachen. Dann verärgere ich Fans.
Erinnern Sie sich an eine harsche Reaktion eines Fans?
Oh, ja! Auf Jethro Tulls Album «Aqualung» wandert die Gitarre mal ganz kurz von links nach rechts, ehe Martin Barre zu einem Solo ansetzte. Dieser kurze Moment entging mir bei meinem Remix. Und wegen diesem Detail vergab ein Fan auf Amazon.com nur 1 von 5 Sternen. Er begründete dies damit, dass ich ihm den ganzen Hörgenuss versaut habe. Wegen dieser einen Sekunde! Da half es auch nichts, dass die restlichen 99.5 % des Albums sehr originalgetreu abgemischt waren.
Vielleicht ganz beruhigend zu sehen: Es gibt immer noch einen grösseren Nerd als man selber ist.
(lacht) Ja, absolut! Bei manchen Alben dachte ich, dass ich diese so gut kenne wie kein anderer auf diesem Planeten. Und habe dann erfahren, dass es Leute gibt, die sich noch besser auskennen (lacht).
Welches Album würden Sie gerne remixen, weil Sie noch was rausholen, es noch besser machen könnten?
Besser ist das falsche Wort. Denn die meisten Alben, die noch auf meiner Liste stehen, klingen schon fantastisch. Sie würden sich aber in meinen Ohren für einen Surround-Sound eignen – diese Aufgabe würde ich gerne übernehmen. Einige Platten von Radiohead zum Beispiel.
Sie sind ein Tüftler und Perfektionist, ein selbsternannter Studio-Nerd. Ist die Tournee für Sie eine notwendige Abwechslung, damit Sie endlich mal wieder an die frische Luft kommen?
Ja. Der Zyklus in meinem Leben sieht wie folgt aus: Ich verbringe einige Monate in kompletter Isolation in meinem Studio, schreibe Musik. Dann präsentiere ich diese der Band, das Album erscheint – und auf einmal treffe ich auf andere Leute, indem ich rausgehe, die Platte promote und Konzerte gebe. Ein durchaus seltsames Leben, das ich führe – aber ich könnte auf keinen Teil verzichten.
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Steven Wilson: «Hand. Cannot. Erase.», Kscope/Irascible.
Live: Sonntag, 29.3., 20 Uhr. Konzertfabrik Z7, Pratteln. Ausverkauft.