Gaga verändert die Welt – oder zumindest den Tanz. Der israelische Choreograph Ohad Naharin hat mit seiner Tanzform «Gaga» eine neue Innerlichkeit in den modernen Tanz gebracht. Der Dokumentarfilm «Mr. Gaga» erlaubt einen tiefen Blick auf den Menschen, der zu einem «Guru» des modernen Tanzes geworden ist.
«Viel zuviel Kontrolle», sagt der Choreograph, als sich die Tänzerin auf den Rücken fallen lassen soll. Die Tänzerin wippt zurück, neigt den Kopf nach hinten, lässt sich erneut fallen. «Du musst einen Weg finden, loszulassen. Je mehr Du dich gehen lässt, wird dein weicher Körper dich schützen.» Die Tänzerin steht auf und fällt wieder in sich zusammen. Als habe jede Kraft ihren Körper verlassen.
«Wir müssen unsere vertrauten Grenzen des Körpers überschreiten, jeden Tag», sagt Ohad Naharin, der Choreograph, später in Tomer Heymanns Dokumentarfilm «Mr. Gaga». Naharin ist der bekannteste Choreograph in Israel, aber sein Name reicht weit über das Land im östlichen Mittelmeerraum hinaus.
Naharin, 64 Jahre alt, ist ein grosser, drahtiger Mann mit dunklem klaren Blick und tiefer, ruhiger Stimme, der als junger Mann nach New York zog, um mit den berühmtesten Namen des modernen Tanzes zu arbeiten, mit Martha Graham oder Maurice Bèjart. Als er 1980 nach Israel zurückkehrte, entwickelte er sein eigenes Verständnis davon, wie Körper und Geist sich im Tanz aufeinander zubewegen sollen.
Auslöser war eine Krise: Nach einer Aufführung konnte Naharin sein Bein nicht mehr bewegen, der behandelnde Arzt sagte ihm, er werde nicht mehr tanzen können, zu viele irreversible Nervenschäden. «Die Konfrontation mit Grenzen war die bedeutsamste Erfahrung in der Erforschung meines Körpers – und der Beginn der Entwicklung meiner eigenen Bewegungssprache. Gaga.»
Gaga – das Wort klingt nach kindlicher Unschuld, und ihr entsprang es auch. Es soll das erste Wort gewesen sein, dass Naharin gemäss seiner Mutter über die Lippen gebracht habe.
Der Dokumentarfilm des israelischen Regisseurs Tomer Heymann veranschaulicht in langen, geduldigen Szenen aus Naharins Tanzstudio, warum der Begriff so sehr passt auf die Vision von Körperbewegung, die dem Choreographen vorschwebte: die Spiegel im Studio sind abgedeckt, damit die Tänzerinnen und Tänzer sich nicht zu stark auf die Kontrolle ihrer Bewegungsabläufe konzentrieren. Was Naharins Schützlinge tun, gleicht auf den ersten Blick eher einer anhaltenden Improvisation des Körpers. Sie schlängeln sich, sie schütteln Arme und Hände, sie fallen zu Boden, wackeln im Entengang. «Gaga» kann für den Aussenstehenden manchmal, nun ja, gaga aussehen.
Fans auf der ganzen Welt
Für Naharin bot sich damit ein neuer Weg, sich seinen Tänzern verständlich zu machen. Über den Volleinsatz aller Muskeln («Erlaube der Schwerkraft nicht, dich zu dominieren, und sei Dir gleichzeitig bewusst, dass sie eine der mächtigsten Kräfte ist, die Tanz ermöglicht», sagt er einmal), und über die Vermittlung mittels Metaphern. Einem «Wasserfall» gleich soll man sich bewegen. Wieder das «Tier» und der «Jäger» werden, die man einmal war. «Es gibt niemanden, der seinen Körper nicht zu Musik bewegen kann», lautet ein Credo von ihm.
Nicht verwunderlich, dass ein solcher nahezu therapeutischer Duktus auch ausserhalb des professionellen Tanzes auf Resonanz stösst: Wenn Naharin zu seinen – seltenen – öffentlichen Gaga-Sessions in Tel Aviv lädt, muss er eine grosse Halle buchen: die Menschen kommen in Scharen, um sich von ihm, in der Mitte auf einem Podest stehend, durch augenscheinlich strukturlose Bewegungen leiten zu lassen. Den «Guru des modernen Tanzes» nannte ihn das «Dance Magazine» schlüssig.
«Gaga» hat seinen Schöpfer hinter sich gelassen und sich in den vergangenen Jahren ausserhalb der Tanzstudios und hinein in die Fitnesstudios und Yoga-Zentren der (westlichen) Welt ausgebreitet, auch in der Schweiz. Die Anhänger sind zahlreich und prominent – in Heymanns Film gibt unter anderem die Schauspielerin Natalie Portman ihre Empfehlung ab.
Acht Jahre für einen Film
Acht Jahre hat Regisseur Heymann den Choreographen begleitet, und die Hartnäckigkeit, mit der er dran geblieben ist, hat sich ausgezahlt. Am Ende öffnete Naharin ihm Einblicke in die Vergangenheit – ins Familienarchiv, wo Filmaufnahmen aus seiner Kindheit in einem Kibbuz zeigen, wie er bereits als junger Bub über den Rasen gehüpft ist. In seine Armeezeit, als er während des Yom-Kippur-Kriegs in einer Entertainment-Truppe der israelischen Armee auf dem Golan die Soldaten unterhalten sollte, während nebenan geschossen wurde und täglich Freunde und Bekannte umkamen.
Und schliesslich kommt jener Skandal von 1988 zu Wort, in dem das nach Innerlichkeit und Zweckfreiheit strebende Tanzverständnis von Naharin plötzlich die grosse politische Bühne fand. Nach seiner Rückkehr nach Israel 1980 übernahm er als künstlerischer Leiter die renommierte Batsheva Dance Company, damals wie heute das wichtigste Tanzensemble Israels, reformierte es radikal und schaffte es, ein Publikum jenseits des Rentneralters zu holen.
Zum 50. Jahrestag der Staatsgründung von Israel sollte das Ensemble 1988 einen Auftritt am offiziellen Festakt haben – vor den politischen Spitzen des Landes, religiösen Würdenträgern, internationalen Gästen. Am Morgen des Aufführungstag bestellte der damalige Staatspräsident Weizmann den Choreographen Naharin zu sich: Ihm sei besorgt mitgeteilt worden, dass das Tanzensemble in Unterwäsche aufzutreten plane, was für die religiösen Zuschauer einen Affront darstelle. Der Rat des Präsidenten: Zieht lange Unterhosen an.
Als Naharin damit seine Tänzer konfrontierte, versperrten sie sich dem präsidialen Wunsch. Die Staatsfeier fand ohne die Batsheva Dance Company statt. Ein Skandal – und einer, der Folgen hatte: Die nächsten Tage gingen in Jerusalem und Tel Aviv die Menschen demonstrierend auf die Strasse, solidarisierten sich mit der Tanztruppe und protestierten gegen den Einfluss der Religion in den politischen und kulturellen Alltag des Landes.
Zweifel am Heute
Das ist fast 30 Jahre her, und die letzten Momente von «Mr. Gaga» gehören den zweifelnden Gedanken Naharins, ob dieses Land, das er liebt und in das er aus New York zurückgekehrt ist, weil er nur hier seine Vision umzusetzen zu können glaubte, ob dieses Israel noch für Menschen wie ihn ist. «Last Work» heisst seine letzte Produktion aus dem Jahr 2015, die es noch in den Film geschafft hat – «Last Work» deshalb, «weil es wirklich meine letzte Arbeit sein könnte», sagt Naharin. «Wir leben in einem Land voller Rassisten, Fanatikern und Ignoranten, und dank ihnen ist die Politik, wie sie ist.»
Den Tanz hat Naharin verändert, und auch die Menschen, die zu ihm kommen. «Manche Tänzer begannen während seines Unterrichts zu weinen oder zornig davonzurennen», erinnert sich einer seiner früheren Schüler, «aber sie kehrten immer zurück. Weil sie ahnten, dass er es wert ist.» Um jedoch ein Land zu ändern, braucht es viele wie ihn.
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«Mr. Gaga» läuft im kult.kino Atelier Basel.