Tino Sehgal trifft dich hart

In der Fondation Beyeler stellt der grandioseste Performance-Künstler der Welt aus und kaum jemand weiss es. Zeit, das zu ändern.

Hält nicht so viel vom ganzen Kunstgedöns: Tino Sehgal und sein goldener Löwe der Kunstbiennale von Venedig.

In der Fondation Beyeler stellt der grandioseste Performance-Künstler der Welt aus und kaum jemand weiss es. Zeit, das zu ändern.

Neulich in der Fondation Beyeler: «Entschuldigen Sie, wo finde ich die Performance von Tino Sehgal?» Die Frau hinter der Glasscheibe schaut auf. «Er nennt es Situation», sagt sie, «und ich weiss es nicht.» Dann seufzt sie entnervt. Es ist nicht das erste Mal, dass ihr jemand diese Frage stellt. Dabei hat die Ausstellung gerade erst angefangen. «Gehen Sie mal ein bisschen spazieren, dann werden Sie es aus den Büschen singen hören.»

Die Fragende schaut etwas verwirrt, nickt dann aber und bewegt sich in Richtung Park. Erst passiert eine Weile nichts, alles ist so wie es an einem sonnigen Tag im Beyeler-Garten halt so ist: Eine Asiatin liest in einem Museumsplan, ein paar Rentner trinken Kaffi Crème im angrenzenden Restaurant, Besucher haben sich ins Gras vor dem Museum gelegt und dösen.

Da klingt plötzlich was aus Richtung Kiesweg: Zwei junge Mädchen sind kurz vor einer Frau stehengeblieben, die ihnen TLCs «Waterfalls» vorsingt. Sie kichern und laufen schnell wieder los, obwohl ihnen die Frau in die Augen schaut. «Ich glaub, die hat einen Schaden», flüstert die eine. «Das ist dänk Kunst», entgegnet ihre Freundin.

Was für ein Spiel wird hier eigentlich getrieben?

Die beiden haben soeben einen Tino Sehgal erlebt, ohne es so richtig zu begreifen. Gut so. Genau das macht seine Situationen nämlich aus: Man weiss nie so recht. Ist das jetzt eine Performance? Bin ich Teil davon? Sind vielleicht auch diese Mädchen Teil davon? Die Asiatin? Die Rentner? Das ganze freaking Beyeler? Was gehört dazu? Wer gehört dazu? Was für ein Spiel wird hier eigentlich getrieben?

Und genau das macht Tino Sehgals Kunst so grossartig. 


«Mami, was machen die beiden da, so mitten im Museum?»

Performance-Kunst ist eine ziemlich überhebliche Sache. Man wälzt und dreht und windet sich und den Zuschauer solls interessieren. Wie Theater, nur ohne roten Faden. Das kann grandios sein, Intimität und Öffentlichkeit und Körper und Räume spielen mit rein, man kann die Menschen direkt berühren, verwirren, entblössen. Meistens aber bleibt eine affektierte Distanz zwischen Kunst und Betrachter, die komplizierte Idee behindert die Umsetzung.

Unsichtbare Faszination

Bei Tino Sehgal hingegen ist alles ganz nah beim Betrachter – auch wenn man es vielleicht nicht ganz versteht. Hier füllen Menschen die Institutionen, sie sind sein einziges sichtbares Material. Der Rest spielt sich im Unsichtbaren ab: Gefühle, Erinnerungen, eine ganze Palette an Stimmungen. Mal sind es ganze Schwärme, die sich summend und singend an- und auseinanderbewegen, mal eine stille, marschierende Armee, mal nur zwei Menschen, die eng umschlungen auf dem Museumsboden liegen und so viel Zärtlichkeit ausstrahlen, dass die Kinder starren und die Erwachsenen seufzen.

Sehgals Kunst berührt auf einfachste, fast schon archaische Weise. Menschen fühlen etwas, wir sehen ihnen dabei zu und fühlen auch was. Der Künstler ist derweil das pure Gegenteil: Tino Sehgal liebt das Komplizierte, den Hochmut, er führt sich auf, spricht wie ein blasierter Philosophie-Student.

Gleichzeitig verweigert er sich den Eliten, macht sich über sie lustig. Im Herbst 2016 lässt er die Ballerinas der Opéra Garnier in Paris mit dem Rücken zum mondänen Publikum tanzen, das 170 Euro für die Premierenkarte bezahlt hat. Alle Lichter im Saal sind an, Sehgals Interpreten tanzen mit – im Orchestergraben, in den Logen. Das Publikum ist empört: Es gibt keine Bühne mehr, oder wenn, dann ist alles die Bühne. Buhrufe, Entrüstung. Und ein Sehgal, der sich freut. So bringt man den Brei zum Kochen!

Spurenverbot

Auch in der Distribution seiner Werke hält er sich nicht an die Regeln der Kunstwelt: Sehgal hinterlässt nichts. Von seinen Arbeiten gibt es keine Dokumentationen, er verbietet Fotografien, Videos, Drucke und Publikationen.

Sehgals «Situationen» werden nicht angesagt, nicht eröffnet. Sie fangen an, wenn das Museum öffnet und hören auf, wenn es schliesst. Es gibt weder Schilder noch Saaltexte oder sonstige Erklärungen. Keine Pressekonferenzen, keine Empfänge, kaum Interviews. Tino Sehgal will nichts preisgeben. Es ist ihm nicht wichtig. «Das interessiert mich nicht», sagt er und es ist einer seiner Lieblingssätze, man hört ihn immer wieder in den wenigen Youtube-Videos, die es von ihm gibt.

Wer eine Situation kaufen will, der kriegt keinen schriftlichen Kaufvertrag, sondern verhandelt mündlich mit Sehgal vor einem Notar. Was er seinen Verhandlungspartnern diktiert, dürfen die nicht notieren, sie haben es in seiner Anwesenheit auswendig zu lernen. An diesen Terminen wird unter anderem vereinbart, dass der Käufer Wiederaufführungen wie das Original behandeln muss.



Was passiert, wenn man auf der Website der Fondation nach Tino Sehgal in der Sammlung sucht.

Was passiert, wenn man auf der Website der Fondation nach Tino Sehgal in der Sammlung sucht. (Bild: www.fondationbeyeler.ch)

 

Dazu gehört, dass man versucht, dieselben Tänzer wie Sehgal zu engagieren. Das sind manchmal erfahrene Berufstänzer, meistens aber gewöhnliche Menschen, die bereit sind, für ein paar Franken die Stunde Sehgals Regeln zu befolgen. Sehgal wählt sie alle nach demselben Prinzip aus: Er fragt. 

Beschreibe Charaktereigenschaften von jemandem, den du bewunderst.

Hattest du schon einmal das Gefühl, angekommen zu sein?

Wo fühlst du dich zugehörig?

Dann wählt er aus. Seine «Interpretatoren» (Sehgal hasst das Wort «Performer», genau so wie «Performance» oder «produzieren». Bei ihm heisst es: Situation, Interpretator, generieren) sollen ein interessantes Verhältnis zu Tanz und Gesang haben. Und sie müssen gewillt sein, seine Choreografie, seine Regeln zu befolgen. Dazu gehört: Mit niemandem über die Kunst reden. Fragt man die Frau im Beyeler-Garten, was sie denn da singe, dreht sie sich um und geht. Nichts darf raus. 

Trotz dieser rigorosen Isolation umgibt Sehgals Arbeiten ein Gefühl der Freiheit. Wer sie gesehen hat, fühlt sich verbunden, verstanden, Teil eines grossen Ganzen. Die ganzen Restriktionen untermauern dieses Gefühl: Gerade indem die Situationen für sich bleiben, uns keine Anhaltspunkte geben und keine Spuren hinterlassen, bleiben sie haften. Wir haben keine Hilfsmittel, keine Stützen, nur uns selbst und ein Gegenüber, das wir zu verstehen versuchen. 

Die Frau im Garten der Fondation Beyeler singt jetzt «Landfill» von Daughter. Vor ihr steht die Besucherin, die am Anfang nach Sehgal gefragt hat. Sie singt leise mit. «Cause this is torturous electricity / Between both of us.» Sie hat ihn gefunden.

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Tino Sehgal in der Fondation Beyeler, bis 12. November.

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