Tippen, schwenken und Geschichte selbst entscheiden – der Comic der Zukunft

Tim und Struppi war gestern: Im Comic der Zukunft wird getippt, geschwenkt und selbst entschieden, in welche Richtung die Geschichte gehen soll.

In «Monde Binaire» kann man mit einer App das Geschehen im Papiercomic pimpen.

Tim und Struppi war gestern: Im Comic der Zukunft wird getippt, geschwenkt und selbst entschieden, in welche Richtung die Geschichte gehen soll.

«Free your screen» steht gross auf der Website des «Submarine Channel». Das niederländische Animations-Studio ist Teil einer künstlerischen Freiheitsbewegung, die nicht nur den Comic aus seiner starren Papierhülle holt, sondern auch die unzähligen Möglichkeiten aufzeigt, mit denen im digitalen Zeitalter eine Geschichte erzählt werden kann.

«Motion Comics» nennt sich dieser Trend, der seit den frühen Nuller-Jahren durch die Comic-Szene rauscht. Ein «Motion Comic» ist ein digital erzählter Comic, bei dem der Leser zwischen Illustrationen hin und her springen, hineinzoomen und herausschwenken und den Verlauf der Story mitbestimmen kann. Der visuelle Eindruck bleibt dabei meist statisch wie beim klassischen Comic, nur hat der Leser jetzt viel mehr zu sagen. Und das mit gutem Grund: Mit dem Aufkommen digitaler Technologien richtet sich das Auge der Comic-Zeichner auf den digitalen Leser, dem eine simple Geschichte auf Papier längst nicht mehr genügt. 

Denn die Zeiten haben sich geändert: Der heutige Comic-Nerd blättert höchstens noch auf der Toilette im «Tim und Struppi», und auch aufwendig gestaltete Graphic Novels, gezeichnete Romane wie «Habibi» oder «Maus», sind ihm längst zu sehr im Mainstream angekommen. Also setzt er sich an den Computer und mikrofinanziert ein Comic-Projekt, bekommt einen Link und lädt sich einen brandneuen Comic als App aufs Tablet, wo er selbst den Lauf der Geschichte bestimmen kann und bestenfalls auch noch gleich direkt in den Comic eintaucht. 

Bewegte Schatten und animierte Rauchschwaden

Angefangen hat es mit einer kleinen Gruppe von Animations-Designern, die einem französischen Comic-Roman Leben einhauchen wollten: 2001 animierten die Gründer des «Submarine Channel» die französische Graphic Novel «Le Tueur» und erzählten die Geschichte eines anonymen Auftragskillers mit einer 12-teiligen Animations-Serie. «The Killer» sieht aus wie ein ganz normaler Comic – nur eben mit digitalen Mitteln erzählt. So kann sich der Leser durch die Einzelbilder klicken, es bewegen sich Schatten und Rauchschwaden und der ganze Comic ist mit passender Hintergrundmusik unterlegt. Die Geschichte ist vorgegeben – der Leser kann nur entscheiden, welches Kapitel er lesen will, ähnlich wie bei einer Kapitelauswahl auf einer DVD.

Aus demselben Haus stammt auch der ursprünglich in Papierform erschienene Comic «Art of Pho», ein Graphic Novel des Engländers Julian Hanshaw. Lois van Baarle vom «Submarine Channel» erweiterte die Geschichte über den Charakter Little Blue, der die Kunst der Zubereitung der vietnamesischen Suppe Pho erlernt, mit musikalischen, animinierten und interaktiven Elementen, ohne das gezeichnete Original zu verändern:

Obwohl der Leser nur die Handlung vorantreibt, hat jeder Klick eine Bedeutung. Mal muss man einen Schlüssel drehen, mal ein Gaspedal gedrückt halten, um die Geschichte ins Rollen zu bringen.

3856 Arten, eine Geschichte zu erzählen

Auch Jason Shigas Geschichten beziehen den Leser ein. Als Jugendlicher liebte der Amerikaner die Abenteuergeschichten, wo er nach jedem Kapitel entscheiden konnte, wohin die Reise gehen sollte, und dann auf die entsprechende Seite blättern musste. Im Comic, dachte er ein paar Jahre später, sei diese Art von Geschichtenerzählen noch viel interessanter, weil man den ganzen visuellen Aspekt mit den Einzelbildern einbauen könne.

Also entwickelte Shiga «Meanwhile», einen Comic, der entlang Hunderter Einzelbilder gelesen wird und auf 3856 Arten erzählt werden kann. Ein paar Jahre später entwickelte er die Motion-Comic-Version: eine Applikation für Tablets, bei der der Leser in die Richtung klicken kann, in die es gehen soll. «Ich finde es einfach viel spannender, eine Geschichte nicht linear erzählen zu müssen, sondern viele Möglichkeiten zu haben und wie in einer Art Labyrinth verschiedenste Stränge auszuprobieren», meinte Shiga vor ein paar Wochen, als er am Comic-Festival Fumetto in Luzern zu Besuch war. 

Mitten im Comic

Entscheiden, wos hingehen soll, kann man auch bei «IDNA», einem Projekt des Schweizer Designstudios apelab. Allerdings schaut man in «IDNA» nicht auf den Comic, sondern ist in ihm drin: 

Die Geschichte entwickelt sich anhand des «Leseflusses» – wenn der Leser genug lange auf ein Objekt oder eine Person fokussiert, geht die Geschichte in jene Richtung weiter. Jede Szene ist auf einer Rundumsicht von 360 Grad aufgebaut, so dass der Leser oder Zuschauer mitten im Geschehen ist. Je nachdem, welchem Charakter oder Ereignis man folgen will, kann das Tablet um seine Achsen gedreht werden, um das Sichtfeld anzupassen. 

«Wir wollten eine Geschichte entwickeln, bei der man mitten im Geschehen ist», meint Maria Beltran, die zusammen mit Emilie Tappolet und Sylvain Joly in Genf an «IDNA» tüftelt. Die drei jungen Animations-Designer haben sich im Studium in Genf kennengelernt und mit «IDNA» den ersten Comic der Welt entwickelt, der das Tablet als Auge benutzt – wie in einem Film, den man nicht nur schauen, sondern bei dem man auch aktiv am Geschehen teilnehmen kann. «Strenggenommen ist es gar kein Comic mehr», meint Maria, «mehr so was zwischen Videospiel, Film und Comic». Eine genaue Definition zu finden sei aber auch gar nicht so wichtig. In erster Linie gehe es darum, auf möglich spannende Art und Weise eine Geschichte zu erzählen. Die digitalen Werkzeuge sind Mittel zum Zweck.

Vom Buch aufs Smartphone

Im selben Gebäude wie «apelab» haben auch Julien und Baptiste Milési ihr Designbüro. Bei den beiden Brüdern trifft die Bezeichnung Comic noch am ehesten zu: Ihr Projekt «Monde Binaire ‚Hello World!’» ist ein schwarzweisser Comic in Buchform, der grafische Elemente enthält, die wie ein Barcode von einem iPhone eingelesen werden können, das zuvor mit einer App ausgestattet wurde. Das Handy wird dann auf das Buch gelegt, und auf dem Display erwacht die Geschichte zum Leben:

Mithilfe einer Smartphone-Kamera werden bei «Monde Binaire» die interaktiven Felder des 36-seitigen Buches lokalisiert, und so wird Zugang zu 22 Game-Sequenzen geschaffen. Der Leser kann direkt mit den Charakteren aus der Geschichte interagieren.

Ohne gute Geschichte läuft nichts

Eine simplere Form von Motion-Comic-Design betreibt der Amerikanische Zeichner Ezra Claytan Daniels. Sein neuster Comic «Upgrade Soul» funktioniert ganz einfach: Der Leser treibt nur die Handlung voran, indem er über die Sequenzen streicht. Daniels setzt auf eindrückliche Zeichnungen und eine spannende Geschichte. «Ich mache Kunst mit Geschichten, sie sind meine höchste Priorität,» sagte der Zeichner am «Fumetto». Eine Geschichte könne noch so spielerisch erzählt sein – wenn sie inhaltlich nicht überzeuge, sei der Comic dahin. Und Daniels bleibt seinem Wort treu: «Upgrade Soul» ist eine wilde Science-Fiction-Story um zwei Wissenschaftler, die eine risikoreiche Therapie anbieten um den menschlichen Körper zu verjüngen:



Wie Maria Beltran sieht auch Daniels keinen Grund, seine Geschichten einer Kategorie zu unterwerfen: «Alles verändert sich, Bücher, Filme, Games, alles verschmilzt. Wieso soll man sich da noch auf eine Richtung festlegen, wenn man alles haben kann?»

Die Comic-Designer der Zukunft setzen sich keine Grenzen und sind gut vernetzt: Wo man bis vor wenigen Jahren höchstens mit einem Texter und Verleger zusammengearbeitet hat, organisieren sich die heutigen Comiczeichner untereinander, setzen sich mit Programmierern und Game-Designern zusammen und schaffen kollektive Arbeiten. Sie arbeiten unabhängig von den grossen Comicverlagen wie Marvel Comics und DC Comics, die längst auch das Potential von Motion Comics erkannt haben und Tablet-Leser mit den passenden Apps zu ihren Comics erfolgreich versorgen. 

Und wie bezahlt man das alles?

Anders als bei den grossen Verlagen ist die Projektfinanzierung bei unabhängigen Entwicklern immer noch eine schwierige Angelegenheit: «Wir befinden uns auch nach zehn Jahren immer noch in einer Pionierphase», sagte Transmedia-Experte Christian Ströhle letztes Jahr im Gespräch mit den SRF. Am wichtigsten sei es, dass die zahlreichen Tablet-Besitzer diese Motion-Comic-Angebote kennen, finden und nutzen würden. 

Für die Entwickler steckt grosses Potenzial in Mikrokrediten. Auch Jason Shiga vertraut auf die riesige Motion-Comic-Fanbase, die sich in den letzten Jahren entwickelt hat. Für ihn liegt die Lösung des Geldproblems in Spenden ab einem Dollar, die Leser auf Crowdfunding-Plattformen an die Comic-Designer vergeben können. «Seien wir mal ehrlich, niemand klaut gerne Inhalte aus dem Internet. Deshalb sind Seiten wie indiegogo oder kickstarter eine enorme Entlastung: Der Comiczeichner erhält das benötigte Geld und der Leser ein gutes Gewissen – und einen tollen Comic dazu.» 

Crowdfunding mag für viele Designer eine Entlastung sein, einfach ist es bei den Kosten, die für die Entwicklung eines Motion Comics anfallen, trotzdem nicht: Auch apelab hat für «IDNA» eine Kickstarter-Kampagne gestartet und von den benötigten 80’000 erst um die 11’000 Franken zusammenbekommen. Ganz frei sind die Comic-Designer der Zukunft eben doch noch nicht.
 

«The Killer» und «The Art of Pho» können auf der Submarine-Website in voller Länge gratis gelesen werden. 

«Meanwhile» ist im iTunes Store für CHF 5.00 erhältlich.

Die Kickstarter-Kampagne für «IDNA» läuft.

«Monde Binaire» ist als App kostenlos erhältlich, das Buch ist im Moment aber ausverkauft.

«Upgrade Soul» ist kostenlos für iPhone und iPad im iTunes Store erhältlich.

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