In «Toni Erdmann» bringt ein Vater seine Tochter zur Welt

Kein Film zum Abhaken: Die Tragikomödie mit Sandra Hüller über eine verkorkste Vater-Tochter-Beziehung ist umwerfend. Eine Filmbesprechung mit Stoppuhr.

Acht Minuten dauerten die Standing Ovations für Maren Ades «Toni Erdmann» in Cannes, und ich denke: Die haben gut klatschen bei ihren Filmfestspielen. Aber jetzt bin ich selbst dran mit verreisen, vielleicht sogar ans Meer. Das Einzige, was zwischen mir und der Sonne steht, ist eben dieser Film, der ganze 160 Minuten dauert. 
«Yolo!», johlt da der Originalitätszwang: Mach es frech. Mach eine Liste. Zeit stoppen und notieren, was gerade so auf der Leinwand läuft, weil: Wer hat schon Geduld für eine Filmbesprechung.

0:00

Reihenhaus-Mief wie im deutschen TV-Vorabendprogramm: Der Postbote klingelt, Winfried (Peter Simonischek) öffnet. Nein, das Paket hat er nicht bestellt, vielleicht sein Bruder, der kürzlich aus der Haft entlassen wurde? Der Mann geht ins Haus und kehrt als sein eigener Bruder mit schiefem Kunstgebiss und Handschellen am Handgelenk zurück.

Alles nur ein Scherz. Der pensionierte Musiklehrer lebt allein, sein Haar ist so schlohweiss wie das Fell seines Hundes, und sein Humor ist mitunter, nun ja, grenzwertig:

8:30

Winfried hat für einen ehemaligen Arbeitskollegen ein Abschiedsständchen organisiert, die Schulkinder und der Rentner sind als Skelette geschminkt, während sie «Heute hier, morgen dort» von Hannes Wader krähen.

14:00

Winfried, immer noch mit Totenkopfschminke im Gesicht, ist zu Besuch bei seiner geschiedenen Frau, um den Geburtstag der gemeinsamen Tochter zu feiern: Ines, von der wunderbaren Sandra Hüller gespielt, ist selten zu Hause, weil sie als Unternehmensberaterin in Rumänien Karriere macht. «Sie telefoniert ständig», bemerkt ihre Mutter, Winfried erwidert: «Da haben wir wohl was falsch gemacht.»

15:00

Der Hund ist tot. Winfried hat die Nacht bei ihm im Garten verbracht, das altersschwache Tier ist in ein Gebüsch gekrochen, um allein zu sterben. Wer hat hier gesagt, dass «Toni Erdmann» eine Komödie ist!?

Das mit dem Protokollieren hat so seine Tücken. «Toni Erdmann» vertreibt seinem Publikum nicht einfach die Zeit, er macht ihm ihr Verstreichen schmerzhaft bewusst. Und Ines ist drauf und dran, ihre Zeit, ihr Leben zu vergeuden.

In Bukarest soll sie für ihre Firma einen Outsourcing-Deal einfädeln, sprich: Leute entlassen. Der Überraschungsbesuch ihres Vater kommt da ungelegen. Er ist ihr peinlich, mit seinen schiefen Zähnen, und sie fühlt sich selbst peinlich berührt zwischen den leeren Anzugträgern und deren hohlen Phrasen: «Ich mag Länder mit einer Mittelschicht, sie entspannt mich», sagt die russische Vorzeigefrau eines Geschäftsmannes.

40:00

«Bist du auch manchmal glücklich hier? Hast du Spass in deinem Leben?», möchte der Vater von seiner Tochter wissen. «Das sind ziemlich viele Begriffe», schnappt Ines zurück, «können wir die ein bisschen ausdünnen?» Loriot hätte solche Dialoge nicht präziser hingekriegt.

50:00

Das grosse Zerwürfnis: Winfried stört, er soll abreisen, Ines begleitet ihn zum Lift. Unglaublich, wie lange sie davor stehen und warten und sich nichts zu sagen haben. Beelendend lang. Dann die ersten Tränen: Ines winkt vom Balkon. Ich tupfe mir die Augen trocken.

63:00

Auftritt Toni Erdmann: Winfried ist natürlich nicht abgereist, er hat das Kunstgebiss mit einer schlechten Perücke und einem schillernden Sakko vervollständigt. Als Coach und Berater in Lebensfragen stellt er sich Ines‘ Chef vor. Und, hey: Es ist doch eine Komödie, das zottelige Ekel Toni Erdmann hat sein Furzkissen dabei!

80:00

Und was für eine Komödie das ist: Ines bittet ihren Lover, für sie zu masturbieren. «Ziel auf eines der Petits Fours – ich esse es später.» In welchem Film hat man das je gehört? Geschweige denn gesehen.

117:00

Winfried alias Toni Erdmann lässt nicht locker. Er fordert seine Tochter heraus. Er bugsiert sie aus ihrer vermeintlichen Komfortzone, verwickelt sie in Rollenspiele und bringt sie sogar zum – Ostereierfärben: «Miss Schnuck, das ist jetzt Ihr Törn, das ist sehr heilsam. Und machen Sie sich ruhig Notizen.»

120:00

Sandra Hüller singt. Whitney Houstons «Greatest Love of All». Kann sie das? Und wie, fast hätte ich in die leere Pressevorführung geklatscht. Habe ich schon gesagt, dass Sandra Hüller grossartig ist?

129:00

Ines schmeisst einen Business-Brunch: «Ist nichts Schlimmes, ich habe nur nichts an.»

140:00

«Krass, ist das krass! Geil!»

148:00

Eine Beerdigung, der Rest ist Schweigen.

156:00

Abspann, so schnell sind die 160 Minuten um – keine Sekunde zu spät. «Toni Erdmann» ist ein grosser Film und eine grosse Freude, ebenso aufwühlend wie beglückend. Dafür hätte in Cannes ruhig mehr herausspringen dürfen als der Internationale Filmkritikerpreis.

«Es geht oft nur ums Abhaken», sagt Peter Simonischek als Winfried im Film, «und so geht das Leben vorbei. Aber das versteht man erst hinterher.»

Insofern habe ich mir mit meiner Idee selber ein Furzkissen untergeschoben: «Toni Erdmann» ist kein Film zum Absitzen, sondern zum Erleben.

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