Der Finne Iiro Rantala stellte mit seinem Europe String Trio im Gare du Nord die Parameter des Jazz auf den Kopf und riss das Publikum zu Begeisterungsstürmen hin.
Wäre Iiro Rantala ein Vogel, dann wäre er mit Sicherheit eine Nachtigall. Es gibt im Moment wohl keinen so überschwenglichen, erfindungsreichen Melodiker am Klavier wie diesen Nordmann, der von seinem Äußeren freilich gar nichts von einem filigranen Federvieh hat. Knautschgesichtig, strubbelige Blondmähne, so kommt er auf die Bühne des Gare du Nord, mit einem britischen Understatement in den Ansagen, die er auf die so oft zitierte finnische Kauzigkeit oben drauf setzt und damit sofort die Zuhörer gewinnt. Und natürlich durch seine Musik, die – Unbeleckte mögen sich wundern – mit dem ersten Kyrie aus Johann Sebastian Bachs Messe in h-moll beginnt.
Schwelgerischer Bach
Rantala ist bekannt für solche Brückenschläge, die symptomatisch sind für den spannenden europäischen Jazz unserer Tage. Man schert sich nicht mehr um stilistische Raster, Grenzbereiche fransen insbesondere in die Klassik und in den Pop aus. Für den Finnen war Bach ohnehin der erste Jazzer, wie er betont, und in seine Interpretation des Geistlichen legt er eine fast schwelgerische Note. Doch dann, kaum merklich, gleitet er in eine Eigenkomposition, man entdeckt darin noch ein wenig barocke Substanz, vor allem aber ein notorisches Endlosriff, das von dunklem Grollen unterfüttert wird und mit einem astreinen Popthema endet. Jubel schon bei diesem Soloeinstieg im Saal.
Nun erst entern Rantalas neue Mitstreiter das Geschehen. Mit der österreichischen Cellistin Asja Valcic und dem polnischen Violinisten Adam Baldych formt er das Europe String Trio, das von seiner Benennung ebenso der Klassik zugehörig sein könnte, und in der Tat die Parameter von Jazzkonventionen weit hinter sich lässt. Mit der «First Tune» wird gleich ein großer Spielraum eröffnet, das Cello verströmt mit breitem seelenvollen Strich Wohlklang, die Geige tupft Pizzicati hin, man denkt an Brahms und Ravel zugleich. Plötzlich ein rasender Übergang, wie eine aufgezogene Spielmaus heizt das Trio fast countrymäßig, ausgelassenes Saloon-Feeling kommt auf, wiederum durchbrochen von drängender Melancholie.
Irrwitzige Brüche
Und dann entschliesst sich Rantala, das Wechselbad wieder sakral zu konterkarieren, mit einer feierlichen, innigen Melodie aus einem selbstkomponierten Oratorium, in der sich Valcic und Baldych in Terzparallelen wiegen, nur um anschliessend in eine sehr slawisch, vom Feuer der Tsiganes geprägten Variante von «Caravan» hineinzusausen. Es sind die irrwitzigen Brüche in diesem Programm, die keine Sekunde Langeweile aufkommen lassen, und es ist der immens hohe Level des Musizierens.
Funkensprühende Hetzjagd
Baldych, frisurtechnisch irgendwo zwischen Dandy und Punk, behandelt seine Geige sehr feinmotorisch mit springendem Spiccato-Bogen genau wie wispernden Flageolett-Tönen, gibt auch mal durchs Klopfen auf den Korpus die Perkussionsabteilung. Im Stück «Hard Score» mutiert er mit einem unglaublichen Solo zum modernen Paganini, zelebriert eine Atem nehmende funkensprühende Hetzjagd über alle Lagen. Valcics Stärken liegen eher in einem verschwenderisch strömenden Melos, warm und voll, ein wehmütiges Erzählen, sie kann jedoch auch sehr physisch, wenn sie will.
Seinen beiden Mitstreitern liefert Rantala, der sich immer wieder exaltiert am Flügel aufbäumt, drängende Schübe in den Basslagen als Unterbau, die könnten durchaus auch als Hardrock-Riffs durchgehen. Vor allem aber offenbart er in vielen Kompositionen an diesem Abend eine nie versiegende, überbordende Lust an der Melodie, baut seine Stücke fast wie instrumentale Popsongs in Perfektion. Wie er sich in «Freedom», inspiriert durch Jonathan Franzens gleichnamigen Roman, hymnisch immer weiter aufschwingt, sich Freiheit musikalisch erringt, das hatte ganz stark beglückende Momente. Ein großartiges Highlight des laufenden Offbeat-Festivals, das vom Publikum mit tosendem Applaus gefeiert wurde.