«Ulysses»: Auf Irrfahrt in James Joyce’ Jahrhundertroman

Eine unerschöpfliche Quelle der Lust und Verzweiflung: James Joyce hat mit «Ulysses» den modernen Roman und, nebenbei, den einzigen Gedenktag für eine literarische Figur geschaffen. Vor 75 Jahren starb der irische Schriftsteller in Zürich.

Wohin solls gehen? James Joyce in Zürich.

(Bild: Keystone/Zürcher James Joyce Stiftung/Carola Giedion-Welcker)

Eine unerschöpfliche Quelle der Lust und Verzweiflung: James Joyce hat mit «Ulysses» den modernen Roman und, nebenbei, den einzigen Gedenktag für eine literarische Figur geschaffen. Vor 75 Jahren starb der irische Schriftsteller in Zürich.

Respekt jenen, die es vollbracht haben. «Der berühmteste ungelesene Roman der Welt» wird «Ulysses» genannt, dieser Jahrhundertroman von James Joyce, der, glaubt man seinen Verehrern, nach seinem Erscheinen 1922 alles, was die englischsprachige Literatur noch hervorbringen sollte, zu blossen Fussnoten degradierte. 1000 Seiten stark und rund 260’000 Wörter lang ist das Buch, aber die Masse ist noch das kleinste Problem.

«Ich habe so viele Rätsel und Geheimnisse hineingestopft, dass die Professoren Jahrhunderte darüber streiten werden, was ich eigentlich gemeint habe, und das ist der einzige Weg, unsterblich zu werden», sagte der vor 75 Jahren in Zürich verstorbene Joyce über sein Hauptwerk. Er hat natürlich recht behalten.

Alles in einem Tag

Es ist nicht der Rahmen des Buches, der den Leser so sehr verzweifeln lassen wie bereichern kann. «Ulysses» umfasst, anders als der homerische Referenztitel, keine zwanzig Jahre dauernde Irrfahrt durch alle Ecken der bekannten Welt, sondern handelt von einem einzigen Tag. Dem 16. Juni 1904 in Dublin, in dessen Strassen die Hauptfiguren zu Hause sind: der junge Intellektuelle Stephen Dedalus, die Opernsängerin Molly Bloom. Und vor allem ihr Ehemann, der Anzeigenvertreter Leopold Bloom.

Bloom erlebt, müsste man seinen 16. Juni protokollartig zusammenfassen, nicht sonderlich viel. Er verlässt morgens nach dem Frühstück seine Wohnung an der Eccle Street und kehrt 18 Stunden später wieder zurück, dazwischen wohnt er in einem Wartezimmer einer Geburt bei, er wohnt einer Beerdigung bei, bestellt in einem Pub ein Gorgonzola-Sandwich und kriegt, als geborener Jude, Streit mit einem stramm katholischen irischen Nationalisten. Am Abend trifft er in einem Bordell wieder auf den jungen Dedalus, den er aus einer Schlägerei mit britischen Soldaten und dem Trinkrausch zurück in die Nüchternheit holen muss.

Die Übersichtlichkeit der Schauplätze kommt jenen Joyce-Jüngern entgegen, die jeweils am 16. Juni in Dublin auf Blooms Spuren wandeln wollen: Man kann sie alle bequem zu Fuss erreichen. Ein Vorteil, weshalb der «Bloomsday» zum wahrscheinlich bekanntesten Gedenktag Irlands neben dem St. Patrick’s Day geworden ist – mit Sicherheit jedoch der einzige Feiertag, der an eine Romanfigur erinnert. Zumindest in der Konsequenz sind die beiden Feiertage gar nicht so unterschiedlich: Weil Blooms Tag im Suff endet, gehört auch zum Abschluss des Bloomsday ein angemessener Rausch.

Textwolke ohne Punkt und Komma

Fordernder hingegen ist der Gang durch all jene Seiten des «Ulysses», die zwischen den Schauplätzen stehen und die dem Buch seinen Nimbus der überwältigenden Unentschlüsselbarkeit verliehen haben. So wie Homers «Odyssee» sowohl die Epik als Gattung als auch den nach-mythischen Menschen als jenen selbstgewissen Helden, der sich gegen das ihm von den Göttern zugedachte Schicksal sperrt, geschaffen hat, bricht Joyce’ «Ulysses» mit den Merkmalen des klassischen Romans.

Ganze Kapitel werden als Dialogform gesetzt, der Duktus wandelt sich von gesetztem Altenglisch in die Alltags- und Vulgärsprache, auch Kenntnisse in Latein und über andere Heimstätten des Bildungsbürgertums wie Aristoteles, Dante und Shakespeare können nicht schaden. Doch dazwischen muss man sich der Verlorenheit ergeben, wenn Joyce auf Abkürzungen, Wortneuschöpfungen oder Gedichtformen zurückgreift.

Berühmt gemacht hat «Ulysses» die Technik des sogenannten Bewusstseinsstroms, der den Leser dazu anhält, im Innenleben der Romanfiguren herumzuwandeln und, wie Homers Ithaker, herumzuirren. So wie das subjektive Bewusstsein nicht linearen Bahnen folgt, sondern Sprünge macht, sich ablenken lässt, Gedanken abbricht und woanders ansetzt, verschwimmt Joyce’ Sprache im abschliessenden Gedankenmonolog von Molly Bloom in einer Textwolke ohne Punkt und Komma, ohne Anfang und Ende. Alles ist im Fluss.

Orientierungsloses Lustwandeln

Das ist das Schöne am «Ulysses»: Man hat die Freiheit, an irgendeiner Station dieser Odyssee einzusteigen, um sich mitreissen zu lassen. Joyce hat schon, als er mit dem «Porträt des Künstlers als junger Mann» quasi den Prolog zum «Ulysses» schrieb, sein künstlerisches Projekt umrissen: «I will try to express myself in some mode of life or art as freely as I can and as wholly as I can», schreibt der junge Joyce.

Was Literatur vor ihm war und was sie bestimmte – «Ulysses» hat sich einen Dreck darum geschert. Das orientierungslose Lustwandeln in der Sprache, wir haben es dem irrenden Leopold Bloom zu verdanken.

Joyce und Zürich
James Joyce, geboren 1882 in Dublin, hat Irland bereits als junger Mann verlassen. Neben Stationen in Triest, Rom und Paris verbrachte Joyce entscheidende Jahre seines Erwachsenenlebens in Zürich, wo er am 13. Januar 1941 an den Folgen eines Darmdurchbruchs starb. Sein Familiengrab, in dem neben Joyce auch seine Frau Nora Barnacle (die er am 16. Juni 1904, dem Bloomsday, kennen gelernt hatte), ihr gemeinsamer Sohn Giorgio und dessen Frau Asta Jahnke-Osterwalder bestattet sind, befindet sich auf dem Friedhof Fluntern in Zürich. Wer für den kommenden Bloomsday nicht nach Dublin fahren will, dem bietet Zürich eine gute Alternative. Die 1985 gegründete James Joyce Foundation hält unter der Leitung des renommierten Joyce-Kenners Fritz Senn mittels Veranstaltungen und Touren das Andenken an Leben und Werk des Dubliners lebendig. Zum Gedenkgebechere empfiehlt sich die James Joyce Bar an der Pelikanstrasse. Deren Interieur stammt aus der Jury’s Antique Bar in Dublin, die im «Ulysses» während Blooms Streifzug erwähnt wird. Als das dazugehörige Hotel in den 1970er-Jahren abgerissen wurde, haben Investoren aus dem Umfeld der Schweizerischen Bankgesellschaft (heute UBS) das Interieur ersteigert – und damit, in unmittelbarer Nähe des Zürcher Bankenplatzes, eine Kneipe zu Joyces Ehren eröffnet. Das nach ihm benannte Restaurant dürfte einiges edler daherkommen, als es die Schilderungen der Dubliner Pubszene aus dem «Ulysses» erahnen lassen. Whiskey gibts, natürlich, dennoch.

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