Und plötzlich Stille

In einer Woche erscheint sein neuer Roman «Aus den Fugen»: eine Begegnung mit dem Basler Autor Alain Claude Sulzer.

Alain Claude Sulzer wirft einen liebevoll-distanzierten Blick auf «seine» Stadt Basel. (Bild: Julia Baier)

In einer Woche erscheint sein neuer Roman «Aus den Fugen»: eine Begegnung mit dem Basler Autor Alain Claude Sulzer.

Alain Claude Sulzer und ich sitzen im Garten des «Teufelhofs» und reden über Musik. Der Ort ist beziehungsreich: Um die Ecke befindet sich die Musikakademie, unweit das Stadtcasino mit seinen vielgescholtenen Konzertsälen. Musik durchzieht auch als wesentliches Motiv Sulzers literarisches Schaffen. Dirigenten, Sängerinnen, Pianisten begegnet man in seinen Büchern auf Schritt und Tritt. Er hat auch einmal musiziert, die Querflöte gespielt, doch dann verlegte er die Musik in seine Bücher und legte selbst die Querflöte für immer weg, nachdem ihn seine Hauskatze während einer Übungsstunde schmerzhaft ins Bein gebissen hatte. Finita la musica!

Das heisst es auch in seinem neuen Roman «Aus den Fugen». Auch hier endet plötzlich die Musik während eines Konzerts in Berlins Philharmonie: «Mitten in einer atemberaubenden Interpretation des Hammerklavierkonzerts bricht der Starpianist Marek Osberg sein Spiel ab.» So ist es im Klappentext zu lesen, der eigentlich mehr verrät, als es dem Autor lieb sein kann. Doch der Spannung des Buches tut die Vorwegnahme des Showdowns keinen Abbruch. Virtuos erzählt, hält der vielstimmige Roman den Leser von der ersten bis zur letzten Seite gefangen.

Literarischer Coup

Alain Claude Sulzer hat früh zu schreiben begonnen, neben seiner Tätigkeit als Journalist und Übersetzer aus dem Französischen publizierte er einige wenig beachtete Romane in verschiedenen Verlagen, bis der im nächsten Jahr 60-Jährige vor acht Jahren mit seinem Roman «Der perfekte Kellner» einen literarischen Coup landete, mit dem er in die Spitzenklasse der Schweizer Erzähler vorrückte. Spitzenklasse – ein Wort aus der Sprache der Gastronomiekritik – passt gut zu diesem Autor, der im Privatleben ein begeisterter und vielgerühmter Koch ist, der gemeinsam mit seinem Lebenspartner, dem Schauspieler Georg Martin Bode, seit vielen Jahren ein Landhaus im Elsass bewohnt, ein Pied à terre in Kleinbasel und neuerdings auch eine Wohnung in Berlin.

«Der perfekte Kellner» ist der erste Roman einer Trilogie über die Sechzigerjahre in der Schweiz – Jahre also, die der in Riehen geborene Sulzer nur als Kind und Jugendlicher erlebte, somit hauptsächlich vom Hörensagen kennt. In dieser Trilogie fand er, wie er sagt, zu seinem Stil und seiner Sprache – und er fand zu einem seiner wesentlichen Themen: «In ‹Der perfekte Kellner› habe ich versucht, ganz selbstverständlich über das Schwulsein zu schreiben, bis dahin ein tabuisiertes Thema.» In dem Roman finden sich Seiten hochaufgeladener Erotik, für die ihn eine Leserin lobte: So über Sexualität zu schreiben gelinge eigentlich nur Frauen. Während einer Lesung in Zurzach, erzählt Sulzer, habe er ein überwiegend aus älteren Kurgästen bestehendes Publikum mit einigen dieser Romanpassagen konfrontiert, und es rührte sich kein Protest.

Der Bann war gebrochen, auch für den Autor selbst, der sich nun von Roman zu Roman freischrieb: es folgten «Die Privatstunde» und – nach einem Wechsel zum Berliner Verlag Galiani – der Roman «Zur falschen Zeit», in dem das genau recherchierte Schicksal eines schwulen jungen Mannes in den Sechzigerjahren geschildert wird.

«Alles war eine Frage der Distanz», sagt Sulzer, «ich musste den Umweg über die Sechzigerjahre nehmen, um über die Gegenwart schreiben zu können.» Und man muss hinzufügen, einen Gegenwartsroman, der zur Schweiz keinerlei Bezug hat.

Dass Sulzer seinen neuen Roman «Aus den Fugen» in Berlin angesiedelt hat, verdankt sich einer langjährigen Verbundenheit mit dieser Stadt, einem besonderen Sammelsurium von Lebensstilen, in der Schein und Wirklichkeit kaum unterscheidbar sind. Dennnoch steht das Buch nicht in der Tradition des Berlin-Romans, wie ihn Döblin mit «Berlin Alexanderplatz» begründet hat und der in unzähligen Variationen vor und nach der Wende weitergeschrieben wurde. «Mein Roman könnte in allen Weltstädten angesiedelt sein, in Tokio oder in New York, nur bin ich mit Berlin am besten vertraut, dehalb habe ich diesen Schauplatz gewählt», erklärt Sulzer.

Während eines Tages und einer Nacht verweben sich die Schicksale von Besuchern eines Klavierkonzerts in Berlins Philharmonie auf nahezu magische Weise. In 45 kurzen Kapiteln werden wie von einem Spotlight jeweils eine oder zwei der handelnden Figuren erfasst und in ein raffiniertes Beziehungsgeflecht zueinander gesetzt – ein Verfahren, das an Robert Altmans Film «Short Cuts» erinnert, mit der Aufsplitterung der Geschichte in verschiedene, simultan handelnde Figuren. Aus diesen Episoden lassen sich die Geschehnisse der Nacht erst im Verlauf des Romans zu einem Ganzen zusammenfügen.

Unbekümmerte Nonchalance

Es sind Menschen aus der Oberschicht, sogenannte Leistungsträger, die uns hier vorgeführt werden – Leute also, die sich die teuren Eintrittskarten für das Klavierkonzert des Starpianisten mit Nonchalance leisten und mit der gleichen Nonchalance die Karten zugunsten eines galanten Diners verfallen lassen können. Die Arrivierten treffen auf den Leihkellner einer Cateringfirma, einen CD-Verkäufer, die Assistentin des Pianisten, eine Frau vom Escortservice – wesentliche Nebendarsteller in diesem Tohuwabohu, das nach dem abrupten und von niemandem erwarteten Ende des Konzerts entsteht. Ehebrüche kommen an den Tag, es wird gestohlen und betrogen. Die Schickeria im Übergang zu um sich greifender Orientierungslosigkeit, die zu mehr oder weniger hilflosen Befreiungsversuchen anstiftet. Nicht allen Figuren des Sulzer’schen Reigens gelingt diese Befreiung so souverän wie dem Starpianisten Osberg, der sich jählings aus dem Kunstbetrieb ausklinkt und damit die bürgerliche Fassade der Konzertbesucher zum Einsturz bringt. Der Jahrmarkt der Eitelkeiten, der rund um das Konzert inszeniert werden sollte, findet ein ziemlich klägliches Ende.

Bei einem solchen Romantitel wie «Aus den Fugen» lässt sich natürlich die Assoziation zu Hamlets düsterem «The time is out of joint» nicht vermeiden. Ist dem Roman die Zeitdiagnose eingeschrieben? Zeitdiagnose oder Gesellschaftskritik – das sind Begriffe, mit denen Sulzer eigentlich nicht allzu viel anfangen kann. Sein Interesse gilt dem Erzählten, dem Stoff, seinen Figuren – auf weltanschauliche Spekulationen, «Botschaften», lässt er sich nur ungern ein. Er schreibt über die Leute, die er kenne, sagt der Autor, und das seien eben meistens Leute aus der Mittel- und Oberschicht.

Ein diskreter Snob-Appeal schwebt über allen Romanen Sulzers, was aber die Schärfe seiner Beobachtungsgabe nicht im Geringsten mindert. Die zeigt sich nicht zuletzt in den Exkursen seines Romans in das Savoir-vivre, etwa die Schilderung einer von einer Cateringfirma belieferten Party in Berlins noblem Stadtteil Grunewald oder die Usanzen einer Begegnung mit einer schönen, schlanken Blonden vom Escortservice. Besonders vergnüglich: der Besuch eines gefakten französischen Restaurants, das, wie sich herausstellt, in Wahrheit von Sachsen betrieben wird, die keine Ahnung von französischer Küche und Sprache haben.

Ebenso sachkundig und detailgenau weiss der Autor von der Arbeit eines Klavierstimmers zur Vorbereitung eines Konzerts oder vom Verkauf von Lederwaren in einer Edelboutique in Paris zu erzählen. Die erzählerische Konzentration auf Oberflächen ist Sulzer aber fremd: «Ich betreibe keinen Marken- oder Designerfetischismus wie etwa Bret Easton Ellis in ‹American Psycho›.»

Wer sich seiner erzählerischen Mittel so sicher ist wie Alain Claude Sulzer, benötigt solchen Fetischismus freilich nicht.

  • «Aus den Fugen» Galiani Verlag, 2012, ab 16. August.

Weitere Veröffentlichungen:

  • «Zur falschen Zeit» Galiani, 2010.
  • «Privatstunde» Epoca Verlag, 2008.
  • «Der perfekte Kellner» Epoca Verlag, 2004.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 10.08.12

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