Der Zeichner Tomi Ungerer wird 80 Jahre alt. Doch ans Aufhören denkt er noch lange nicht. Weil die Ideen in seinem Kopf Schlange stehen.
Wie sieht es im Kopf von einem aus, der unablässig Geschichten erschafft? Mit einem «Schnellzug» verglich sich Tomi Ungerer einst in einem Interview. Und so denken wir, in seinem Kopf düsen die Gedanken kreuz und quer, hin und her, und immer wieder pickt der Zeichner hinein, packt einen Einfall und bringt ihn zu Papier, wo zumindest der Gedanke zur Ruhe kommt. Ungerer aber greift den nächsten und macht sich ans nächste Werk. Daran ändern auch die 80 Jahre nichts, die er ab kommendem Montag zählt.
1931 in Strassburg geboren, von Eltern, die eine Fabrik führten, sie stellten Kirchenglocken, Glockenspiele und astronomische Uhren her. Der Vater künstlerisch begabt, die Mutter eine begnadete Geschichtenerzählerin – das Talent wurde dem Kind in die Wiege gelegt. Dazu gesellte sich im Laufe der Jahre ein wacher, manchmal perfider Geist, der in unzähligen Geschichten seinen Niederschlag gefunden hat. Seinen Geschmack fürs Makabere führt Ungerer selbst auf seine Erfahrungen im Krieg zurück, als das Elsass plötzlich deutsch, dann wieder französisch wurde: Granaten, Bombenangriffe und die Aufenthalte im Keller habe er als Kind als recht lustig empfunden. Die Rebellion gegen das System folgte auf dem Fuss, und im Oberschulzeugnis war schliesslich der Vermerk zu lesen: «pervers und subversiv».
Was sollte ein künstlerisch Begabter mit solchen Erfahrungen anfangen? Einer, der zudem sagt, dass er jede kleinste Beobachtung, jedes geringste Ereignis als nützliches Material erachtet? Als moralisches Vorbild hatte die Welt bis dahin nicht hingehalten, immer moralisch korrekt war die Wirklichkeit guten Gewissens nicht wiederzugeben. Brüche mussten her, um zwischen Buchdeckeln eine andere Welt entstehen zu lassen.
Schamlose Künstlerseele
So zerrissen wie sein Geburtsland scheint Ungerers Künstlerseele. Auf nichts liess und lässt sich der gebürtige Franzose, der sein Land bereits in den Fünfzigerjahren in Richtung USA verliess, festlegen, nicht auf einen bestimmten Stil, nicht auf eine bestimmte literarische Gattung. Er schrieb Kinderbücher genauso gern wie Erwachsenenliteratur, versah das Schreibwerk mal mit mehr, mal mit weniger Bildern, nutzte den Farbkasten ebenso ab wie Blei- und Tuschestifte. Nur ein durchgängiges Merkmal zeichnet sein Œuvre aus: eine Schamlosigkeit, eine Ungezogenheit, das Pfeifen auf alle gängigen Konventionen.
Nicht nur mit den Illustrationen sexueller Phantasien oder seinen Satiren brach er zahlreiche Tabus, sondern auch in seinen Kinderbüchern. Hier werden Räuber von einem unglücklichen Mädchen bekehrt, Schlangen als Haustiere gehalten, da raucht der kleine Junge mit seinem Freund eine Zigarette und Küsse für Mütter werden verweigert. «Wenn ich Kinderbücher gemacht habe, so tat ich das einerseits, um dem Kind, das ich selber bin, eine Freude zu machen, andererseits, um zu schockieren, um Tabus ins Wanken zu bringen, Normen auf den Kopf zu stellen», sagt er denn auch selber über seine Motivationen.
Dreimal war der Zeichner verheiratet, drei Kinder hat er. Dazu kommen Dutzende literarische Sprösslinge. Und es werden noch mehr werden. Denn Ungerer verschwendet keinen Gedanken daran aufzuhören. In einem Text über sein Werk aus dem Jahr 1999 bezeichnete er seine Bücher als «Teile eines Puzzles ohne Ende, dem trotzdem noch so viele Teile fehlen». Erst kürzlich sagte er in einem Interview, die Ideen stünden in seinem Kopf Schlange und harrten der Umsetzung. So lange es geht, wird der perfide Sittenschilderer somit von seinem Wohnsitz in Irland aus der Welt noch seine Wahrheit um die Ohren schlagen und seine kauzigen Fantasien zu Papier bringen. Er wird die Leserschaft in gleichem Masse betört wie verstört zurücklassen. Die Fantasie sei vom Aussterben bedroht, sagte Ungerer einst. Noch hält er standhaft dagegen.
Auf- und ausgezeichnet
Zum 80. Geburtstag Tomi Ungerers ist gerade eine Festschrift erschienen («Expect the Unexpected», ISBN 978-3-257-05614-3), das Musée Tomi Ungerer in Strassburg zeigt eine Schau über seine Inspirationen, und im Dezember wird dem Zeichner ein Preis der Oberrheinischen Universitäten, darunter Basel, verliehen.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 25/11/11