«Wer liebt, tut alles, um am Leben zu bleiben.» Dieser Satz ist bezeichnend für Helene Hegemanns neuen Roman «Jage zwei Tiger». So scharf und vernichtend die junge Autorin auch in die Welt schaut: Es ist ein Buch der Annäherungen.
In «Jage zwei Tiger» geht es um Jungsein. Genauer und mit Helene Hegemanns eigenen Worten: «um Minderjährige in Extremsituationen». Und dann fügt die 21-jährige Skandalnudel aus dem deutschen Freiburg ein Zitat an, zu dem sie neuerdings auch anstandslos die Quelle angibt: «They only want you, when you’re seventeen, when you’re 21, you’re no fun.» (Sie wollen dich nur mit 17. Mit 21 bist du langweilig.) Mit ihrem Debütroman «Axolotl Roadkill» hat Hegemann vor drei Jahren einen uferlosen Feuilletonstreit ausgelöst, als ans Licht kam, dass sie seitenweise vom Blogger Airen abgeschrieben hatte. Die Debatte verlagerte sich schnell von Hegemann und ihrem Buch hin zu einem Grundsatzstreit über Urheberrecht. Die Autorin jedenfalls, schon damals die Ruhe selbst, verteidigte ihr Vorgehen mit den Worten «Originalität gibt´s sowieso nicht, nur Echtheit.» In ihrem neuen Buch identifiziert sie gleich auf Seite eins ein Zitat aufs ausführlichste, so als wollte sie sagen: Hier habt Ihr euern Mist.
Fun sollen sie also sein, der elf-jährige Kai und die 16-jährige Cecile. Das klingt angesichts ihrer Erlebnisse reichlich zynisch.
Ein Leben, das keines ist
Kais katastrophale Lage entsteht, als er im Alfa Romeo seiner Mutter sitzt, die auf einem Fashion-Business-Trip nach München unterwegs ist. Von einer Autobahnbrücke kommt ein Stein geflogen, bricht durch die Windschutzscheibe und direkt auf die sofort tote Mutter. Das Auto rauscht durch die Leitplanke und Kai ist sprachlos. Dazu die Erzählerin: «Hardcore, oder? Aber irgendwie auch geil.»
Cecile, die zweite Protagonistin, ist fünf Jahre älter und hat mit Kai die reich-dekadente Herkunft gemeinsam sowie die Abgeklärtheit, die man beiden Altersgruppen nicht zutraut. Und beide leben ohne irgendeine Art von Verwurzelung. Ein Nicht-Leben. Der erste Satz, in dem Cecile erwähnt wird, beschreibt ebenfalls das Verhältnis zur Mutter: «Cecile stand mit einer Frau, die sie seit ihrer Geburt mit deren Vornamen anzureden hatte, an einem Flughafen im Süden Europas.» Klingt schlecht, ist auch schlecht. Ausser Verwandtschaft verbindet Cecile mit ihrer Mutter nur eine massive Überreiztheit.
Von hier aus bahnen sich die mittleren Katastrophen ihren Weg: Weglaufen, Magersucht, keine Drogen zwar, ansonsten das volle Programm.
Kai hat zwar noch seinen Vater Detlev, der sogar versucht, sich um seinen Sohn zu kümmern. Aber Kai weiss, «dass im Herzen von in präpubertären Lovelandphasen steckengebliebener Männer Väterlichkeit nicht mit normaler Leidenschaft gedeihen kann.»
Teenies sehen mehr als Erwachsene
Hegemann schildert Minderjährige in Extremsituationen. Doch die Minderjährigkeit ist eigentlich Nebensache. Denn mit der Auffassung (welche von den meisten Erwachsenen verdrängt wird), dass Minderjährige auch minder zurechnungsfähig sind, räumt das Buch gründlich auf. Die Teenies kriegen meistens sowieso mehr mit als die Erwachsenen, zum Beispiel in diesem Fall:
«Kai lag auf seiner Luftmatratze und Detlev kniete neben ihm, um ihm der Geste wegen irgendeine unbeholfene Form von Gutenachtkuss zu geben. Plötzlich tauchte sein girlfriend im Türrahmen auf, ein Chiffon-Negligé am Leib, um dort zwei Sekunden später einen Ohnmachtsanfall zu faken. Kai checkte im Gegensatz zu seinem Vater sofort, dass sie schauspielerte, weil ihr Zusammenbruch zu sexy für eine Kreislaufschwäche war. Sie kam mit halb gespreizten Beinen auf, trug keine Unterhose, ließ sich von Detlev ins Schlafzimmer tragen und danach bei geöffneter Tür sehr laut ficken. Sie hatte Angst um ihre Hierarchieposition. Sie fühlte sich von väterlichen Urinstinkten bedroht, die Detlev gar nicht hatte.»
Ist das die Wahrnehmung eines Kindes? Eher untypisch. Doch Hegemann thematisiert das Alter eigentlich gar nicht. Sie schafft es aus der Welt. Egal wie alt man ist, leben ist sowieso eine Extremsituation. Jugendliche eignen sich einfach besonders gut, um das darzustellen. Ihre Verlorenheit liegt klarer auf der Hand – it’s more fun.
Das Buch verschlingt seinen Leser
Und dieser fun ist intensiv. «Jage zwei Tiger» gehört zu den Texten, die beim Leser etwas verändern. Man übernimmt den Blick der Figuren. Die Gedanken gehen ähnliche Bahnen. Man wird unterschwellig aggressiv und ist bereit, alles und jeden scheisse zu finden.
Zugleich sitzt das Selbstbewusstsein weit hinten im Rückgrat, man lässt die Dinge geschehen. Bei Begegnungen verzichtet man darauf, an ihrer Langweiligkeit etwas ändern zu wollen. Statt ein Gespräch aufzugleisen, das man gar nicht führen will, verbleibt man locker im Desinteresse.
Vom Gegenüber sieht man nicht nur das Bild, das es von sich kreiert, sondern vor allem die Intention dahinter. Die Menschen erscheinen als der vergebliche Versuch, etwas zu sein. Der Blick geht einfach durch, ungehemmt durch Anstand, mit dem man normalerweise versucht, Begegnungssituationen aufrechtzuerhalten. Alles wird, öde, nackt, bekannt. Dabei lacht man über die Formulierungen, die man zu sich selber sagt und die zunehmend ins Gespräch hinausdringen, vulgär und präzise.
Das ist unendlich befreiend. Und vernichtend.
Seziermesserblicke einer Erzählerin
Vernichtend? Im Buch – man muss zurück ins Buch! – passiert mit der Zeit etwas wundervolles. Je länger die Erzählerin ihre Seziermesserblicke in eine vergebliche Welt bohrt, desto mehr tauchen dort Menschen auf, für die es zu leben lohnt. Menschen mit Kern statt blosse Kunstpartyrhetoriker.
Woher kommen sie? Keine Ahnung. Muss man auch nicht verstehen. Sie kommen aus dem Textfluss. Vielleicht ist ihr Auftauchen eine Hommage daran, am Leben zu bleiben. Denn «wenn man jemanden liebt, verdammte Scheisse, tut man alles, um am Leben zu leiben.»
Der vernichtende Blick dieser Romanfiguren wird nicht von Resignation angetrieben. Ihn treibt der Hunger, verwandte Menschen zu treffen. Aus dem Buch der Vernichtung wird ein Buch der Annäherungen.
- Helene Hegemann liest im Rahmen der BuchBasel: Volkshaus, Basel. 25. Oktober 2013, 17 Uhr.
- «Jage zwei Tiger», Hanser Verlag, München, 320 Seiten.
- Eine Leseprobe finden Sie auf der Rückseite dieses Artikels.