Vom Narziss zum Goldmund: Die Renaissance des Schweizer Rap

Aus der Asche des Schweizer Hip-Hop steigt Goldstaub auf: Mit ihren aktuellen Alben zeigen Greis, TAFS und Manillio der zuvor auf dem Tiefpunkt angelangten Szene den Weg aus der Sackgasse, hin zur Wiedergeburt einer Kunstform: Der Rapper als Poet, Songwriter und Musiker.

Greis (Bild: Matthias Willi)

Aus der Asche des Schweizer Hip-Hop steigt Goldstaub auf: Mit ihren aktuellen Alben zeigen Greis, TAFS und Manillio der zuvor auf dem Tiefpunkt angelangten Szene den Weg aus der Sackgasse, hin zur Wiedergeburt einer Kunstform: Der Rapper als Poet, Songwriter und Musiker.

Der Tod des Hip-Hop-Trends kam nicht überraschend, im Gegenteil: Längst schien es kein Entrinnen mehr aus der selbstgewählten Sackgasse zu geben. Trotzdem war das Schicksal der einst so stolzen Subkultur spätestens mit dem Naturaplan-Rap aus der Coop-Werbung definitiv besiegelt. 2013 ist damit nun offiziell, was sich noch vor wenigen Jahren kaum ein leidenschaftlicher Fan in den schlimmsten Albträumen auszumalen traute: Heute ist sogar Heino hipper als Hip-Hop. Ex und hopp also, Asche zu Asche, Baggypants zu Bling-Bling – Aber sollte man deshalb wirklich bereits alles sang- und klanglos begraben, was in den letzten Jahren an nationalen Talenten im Sprechgesang heranreifte?

Ganz so einfach ist es zum Glück dann doch nicht: Denn so sicher wie das Amen am Ende der Abdankung ist in der heute grassierenden Retromanie die Wiedergeburt der meistgescholtenen ehemaligen Trends als (neudeutsch) «Revival». Und siehe da, gerade jetzt, wo Hip Hop wieder da angekommen ist, wo er einst begann, nämlich tief im Untergrund, treibt die fruchtbare Erde unterm frischen Grab bereits erste zarte Blüten.

Keine missglückten Kreuzungen mehr

Gleich drei gestandene Grössen des eidgenössischen Hip Hop legen nämlich genau jetzt, im Frühjahr 2013, Werke vor, die mehr als aufhorchen lassen. Ob man diese Alben nun als antizyklische Ausnahme, als behutsame Vorhut oder gar bereits als die Trendsetter kommender Tage einstuft, bleibt jedem selber überlassen.

Fest steht einzig, dass die drei Musketiere eines gemeinsam haben: Lächerliches Geprotze mit Luxus-Symbolik und vorlaut-vorgetäuschter Gangsta-Attitüde sucht man bei ihnen genauso vergeblich wie die unsägliche Unsitte, Musik nur als «kleinen Teil des eigenen Portfolios» zu betrachten und sich selbst stattdessen als Zwitter aus Alleinunterhalter und Ich-AG anzupreisen (missglückte Kreuzung wäre treffender). Warum? Weil der Entwurf des MC als Bad-Boy-mit-Businessplan meist bloss Vorwand war, um vom dahinter lauernden, künstlerischen Vakuum abzulenken, und auch manch hoffnungsfrohes Jungtalent damit von der eigentlichen Treibfeder seines Tuns abgelenkt wurde: der Musik.

Doch jene pure Poesie, die aus einem geschliffenen Sprechgesang, einer in Reimform erzählten, von Beat und Bass begleiteten Geschichte entsteht und mit Samples und Scratches veredelt wird, die weiss auch weiterhin zu berühren und begeistern. Nur das Zerrbild des Rappers  als berechnender Entertainer und aalglatter Opportunist hat also nachhaltig ausgedient. Die eigene Wiedergeburt als Lyriker, Songwriter und Musiker beginnt beim vom Narziss zum Goldmund gereiften Rapper der Zukunft daher auch erst ein weiteres Mal von Neuem – das beweisen die folgenden drei Beispiele, frei nach der Devise: Hip-Hop ist tot, lang lebe Rap Music!

Statt aufs Abstellgleis zum autonomen Schenk-Greis gereift

Jahrelang haderte er mit sich selbst und seinem Perfektionismus, zerbrach beinahe am allzu hohen Anspruch, seinen Erfolg sinnstiftend einzusetzen – und stand damit stellvertretend für unzählige Leidensgenossen, die im einsamen Kämmerlein mit ähnlichen Selbstzweifeln und Sinnkrisen kämpften: Gregoire Vuilleumier alias Greis, dem man zu Beginn seiner Karriere suggerierte, er müsse nicht nur Mani Matters Erbe antreten, sondern auch das politische Gewissen des Landes verkörpern und die Schweiz daneben noch als Vorzeige-Poet im Ausland vertreten.

Kein Wunder, wäre ebendieser Greis, als Feingeist von feixenden Raubeinen umgeben, unter dem Erwartungsdruck beinahe kollabiert. Resultat: Eine hartnäckige Schreibblockade, die sich erst löste, als der Künstler die Angst vor dem Scheitern akzeptierte – und mit dem ungewohnt optimistischen «MeLove» 2012 am Ende endlich überwand.

Der frankophone Touch beschert Greis erstmals mächtig Airplay in der Romandie.

«Greis Anatomy», der Nachfolger, mausert sich dank jenem neugewonnenen Selbstvertrauen nun gar unverhofft zum kühnen künstlerischen Statement: Einerseits, weil Vuilleumier seine «Anatomy» von A bis Z in Eigenregie als «No-Budget-Album» produziert hat, und das Resultat zu seinem 10-Jahr-Bühnenjubiläum als Download an seine Fans «verschenkt». Andererseits weil er auf dem Release zum ersten Mal ausschliesslich auf Französisch singt und rappt (nachfolgend der Song «01 Jusqu’à la fin de l’été (JALFDLE) feat. Aliose»).

Ein netter Versuch, Ausschussware gratis an den Mann zu bringen? Im Gegenteil: Das eingespielte Team Greis und Claud, sein langjähriger Produzent, harmonieren mit fast traumwandlerischer Sicherheit und lassen trotz allerlei stilistischen Experimenten (so etwa «Blooming», ein wuchtiges Rap-Industrial-Gewitter mit den legendären Young Gods) nie die klare, gemeinsame künstlerische Handschrift vermissen.

In rasantem Zug die Romandie erobern

Damit schlägt Greis gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe: Der frankophone Touch beschert ihm erstmals mächtig Airplay in der Romandie, «die das Album als eine Art Wiedergutmachung aufnimmt, da ich bisher vorwiegend auf deutsch gerappt hatte», wie er schmunzelt, und mindert gleichzeitig den Druck, der bisher stets auf dem Künstler lastete: «Ein Grossteil des Albums entstand buchstäblich im Zug, auf der Reise von A nach B. Es waren freie Skizzen irgendwo zwischen Old School-Feeling und elektronischen Einflüssen, Momentaufnahmen, die in alle möglichen Richtungen ausuferten. Das gibt der Produktion eine Spontaneität und Ungeschliffenheit, die mir überraschend gut gefällt.»

Gleichzeitig habe er sich aufgrund der kurzen Produktionszeit zum ersten Mal bewusst gefragt, welche Version eines Songs dem Zuhörer wohl am besten gefiele. «Früher kam ich erst ganz am Schluss auf die Idee, dass ich meine Arbeit den Leuten ja irgendwie schmackhaft oder wenigstens zugänglich machen sollte. Als ich dies mal einer Reihe von Marketingexperten erzählte, lachten die mich nur aus. Die Vorstellung, den Zuhörer von Anfang an in die Gleichung miteinzubeziehen ist für mich eine völlig neue Erfahrung – exotisch, aber faszinierend!»

Erste Auswirkungen dieses Umdenkens sind auf «Greis Anatomy» bereits spürbar – denn trotz aller Vielseitig- und Sperrigkeit scheint das Album von einem untergründigen Willen zum Pop durchzogen. Die Bejahung der Zugänglichkeit – ist das Greis‘ Zukunft? «Aktuell beflügelt mich dieser Gedanke komplett. Ich kanns kaum erwarten, meine neuen Ideen umzusetzen – dieses Mal aber mit mehr Zeit und Genauigkeit. Statt mir das Gehirn zu zermartern, suche ich gerade bewusst nach möglichst einfachen, schönen Hooklines… Genial! Mit diesem Fokus macht mir Musik momentan schlicht wieder Riesenfreude.»

Lietschs Piraten trotzen dem Seegang – neuen Leitplanken sei Dank

Beschenkt Greis seine Fans zum Zehnjährigen also im Netz, gingen TAFS aus dem Baselbiet kürzlich unerschrocken den umgekehrten Weg und buhlten auf der vor einem Jahr lancierten Plattform «WeMakeIt» um finanzielle Zuschüsse für ihr neues Album. Nachdem der Basler Sympathieträger Pyro im Herbst bereits sein mit viel Herzblut realisiertes Doppelalbum «Schatteboxe» dank Crowdfunding nicht nur zeitig fertigstellte, sondern auch erstaunlich erfolgreich verkaufte, zweifelte zwar wohl kaum einer ernsthaft daran, dass die treue TAFS-Fangemeinde das Portemonnaie zücken würde.

Das Konzept des Rap-Musikers als rebellischer Freibeuter steht Aman, Taz und Flink jedenfalls vorzüglich.

Trotzdem ist das Ergebnis der Aktion beeindruckend: Innert nur zwei Monaten sammelten die Hip-Hop-Urgesteine aus «Lietsch City» 10’000 Franken, fast doppelt so viel wie die Crew ursprünglich als Summe veranschlagte. Was beweist, dass es für ambitionierte Künstler trotz der Krise der Musikindustrie nach wie vor möglich ist, neue Modelle zur Finanzierung und Selbstvermarktung zu finden – und damit die Gelegenheit zu nutzen, den Scherbenhaufen, der vom einstigen Hip-Hop-Boom übrig blieb, zumindest noch halbwegs zu versilbern.

Kompromisslos nach dem Lustprinzip

Die nötigen Voraussetzungen dazu haben sich TAFS selbst geschaffen: Nachdem das Projekt jahrelang auf Eis lag und bereits Gerüchte über eine stille Auflösung die Runde machten, meldete sich die Squad von Taz, Aman und Flink 2010 mit dem selbstironischen Comeback «Gschwäll» eindrücklich zurück – und gelobte fortan statt hochtrabender Ziele nur noch kompromisslos und konsequent nach dem Lustprinzip zu agieren. Dies wiederum scheint sich für die Crew genauso befreiend auszuwirken wie Greis‘ Gratisaktion: Statt wie zuvor Studiotermine aus Zeitmangel  auf die lange Bank zu legen, haben TAFS nämlich in der Rekordzeit von nur eineinhalb Jahren ein weiteres Album aus dem Hut gezaubert.

Und was für eines: «Landgang» knüpft zwar indirekt an den Vorgänger «Gschwäll» an, spinnt dessen ironischen Zugang zur Hip-Hop-Szene aber gleichzeitig weiter: Das Konzept des Rap-Musikers als rebellischer Freibeuter – samt neckischer Kreuzung zwischen Sonnenbrille und Augenklappe im Gesicht – steht Aman, Taz und Flink jedenfalls vorzüglich (nachfolgend der Song «Klarschiff»).

Die Idee sei ganz spontan beim Sprücheklopfen im Studio entstanden, erinnert sich Taz alias Mattias Leimgruber: «Ein Wort gab das andere und plötzlich befanden wir uns schon mitten im Piratenslang. Das wiederum machte so viel Spass und Sinn, dass wir uns sofort darauf einigten, die Figur des urbanen Piraten zum Ausgangspunkt des Albums zu machen.» Die richtige Entscheidung, wie sich herausstellen sollte: «Eine Idee führte zur nächsten, alles griff ineinander. Wir waren nicht nur ungeheuer effizient, sondern hatten auch Riesenspass!»

In den Fängen des selbstreferenziellen Piraten-Netzes

Dies ist tatsächlich nicht zu überhören: Angetrieben von einem durchgehend nach vorn marschierenden Reggae- und Dancehall-Motor und allerlei ausgefallenen Arrangement-Einfällen flechten TAFS auf «Landgang» einen konzeptionellen Teppich, der nicht nur alle Aspekte des heutigen Piratendaseins vereint, sondern auf einer zusätzlichen Metaebene innerhalb des Albums einen veritablen Referenzrahmen aufspannt: Hier treffen Wortwitz, Anspielungen und Spielereien wie Backscratches auf gesponnene Gedankenfäden und -blitze, und verweben all diese selbstreferenziellen Verweise, «Insider» und Running Gags zu einem unwiderstehlichen Fangnetz.

Das erinnert wahlweise an die ersten, abgedrehten Konzeptalben von Deichkind, an Peter Fox‚ Metamorphose vom Grossmaul zum Gentleman und schliesslich zum geistreichen Gegenwarts-Chronisten oder auch an das smarte Augenzwinkern von Acts wie NERD und Missy Elliott. «Wir haben diesmal den Fokus konsequent darauf gelegt, Songs statt Rap-Tracks zu machen», betont Taz selbst.

Dazu passt, dass TAFS auch ihren Live-Auftritt zurzeit komplett überarbeiten, um sich «nicht auf alten Lorbeeren auszuruhen, sondern einmal mehr zu beweisen.» In Zukunft wollen sie vermehrt als Band (samt Backgroundsängerinnen) auf der Bühne stehen – und DJ Flink wird statt wie bisher an den Turntables neu seine Fingerfertigkeit an Live-Drums unter Beweis stellen.

Dieser Facelift scheint sich bereits vor der Premiere auszuzahlen: Trotz dem zurzeit notorisch schwierigen Umfeld für Rap-Konzerte haben TAFS bereits ihre eigene kleine Club-Tour auf die Beine gestellt – ergänzt von einer Reihe Festivalgigs im Sommer. «Jetzt müssen nur noch ein paar Zuschauer kommen«, frohlockt Taz – und wirkt dabei so frech, frisch und hungrig wie vor zehn Jahren.

Der neue Mani heisst Manillio

Sind es also ausgerechnet die alten Hasen, die dem Hip Hop den Ausweg aus der Sackgasse weisen? Nicht nur. Denn auch wenn er kaum mehr als unbeschriebenes Blatt durchgeht: Mit gerade 25 Jahren gehört Manillio bereits einer anderen Generation an. Den kometenhaften Aufstieg und umso sang- und klangloseren Fall des Genres erlebte er aus einiger Distanz, und als Baze vor drei Jahren seinen epischen Szene-Abgesang «D Party isch vrbi» veröffentlichte, hatte seine eigene dank dem aufsehenerregenden Debüt «Jede Tag Superstar» gerade erst begonnen. Plötzlich scharwenzelten allenthalben «Fans», neue Freunde und attraktive Frauen um den Nachwuchs-MC, mit denen es sich vortrefflich bis in die Morgenstunden feiern und versumpfen liess.

«Eine Weile hatte ich dieses grosse Reissen, war viel weg, fast jedes Wochenende in Zürich… doch irgendwie ging es mir nicht besser, eher im Gegenteil. Je länger je mehr fühlte ich eine grösser werdende Leere.» Diese ernüchternde Bilanz bildete wiederum die Grundlage für Manillios musikalischen Richtungswechsel. «Ich hatte längst keine Lust mehr, über Partys oder Rap zu rappen. Ich wollte gute Songs machen und meinen Sound finden, und dazu musste ich quasi nochmals ganz neu beginnen.»

Existiert der Traum vom Rap-Star heute überhaupt noch? Jedenfalls nicht für Manillio.

Auf der Suche nach «Musik, die Bestand hat» zog sich Manillio in sein Solothurner Zuhause zurück, und experimentierte – inspiriert von der nebligen Kulisse – mit dunkleren, düsteren Sounds, sammelte parallel dazu Formulierungen, aus denen er seine oft doppelbödigen, durchwegs vielschichtigen Lyrics bastelte. «Ich bin unheimlich froh, dass ich mich während dieser Phase in Ruhe in meinem Heimstudio verbarrikadieren konnte, um die Idee hinter dem Album auf den Punkt zu bringen – und zwar so lange, bis ich mir sicher war, dass ich damit auf dem richtigen Weg bin.» Umso glücklicher mache ihn das bisher fast durchwegs positive Echo auf «Irgendwo» (nachfolgend Manillio live bei Radio SRF Virus).

Nicht nur die Party, auch der Traum vom Rapstar ist vorbei

Zu Recht: Denn erinnert einen Manillios Reifeprüfung auch irgendwo an das stilbildende Baze-Album, und ebenfalls ein wenig an sein früheres Vorbild Greis, so klingt der Rapper trotzdem nur wie eine einzige Person: er selbst. Diese Eigenständigkeit spiegelt sich im bedachten, fast behutsamen Umgang mit Sprache, der speziellen Ambiance seiner Zuhause aufgenommenen Lyrics, die dem Album eine individuelle Note, eine intime Atmosphäre verleihen.

Nun muss es Manillio nur noch gelingen, all dies nach aussen zu tragen. «Ich habe letzten Herbst meinen Job geschmissen und all mein Erspartes für das Album auf den Kopf gehauen – dementsprechend hoffe ich natürlich schon, dass sich das lohnt», gibt er freimütig zu. Immerhin: die Zeichen stehen gut, die Weichen richtig. Und danach? Existiert der Traum vom Rap-Star heute überhaupt noch? Jedenfalls nicht für Manillio.

«Ich würde mich gerne noch mehr als Musiker betätigen, zum Beispiel Songs für andere Künstler schreiben. Irgendwann davon zu leben, das wär mein Traum. Aber ein erfolgreicher Rapstar? Da sehe ich ziemlich schwarz. Ich glaube, diese Zeit ist zumindest hierzulande vorbei.»

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