Die Zürcher Songwriterin Verena von Horsten verarbeitet mit ihrem verstörend einnehmenden Album «Alien Angel Super Death» den Suizid ihres Bruders. Am Freitag tritt sie in der Kaserne Basel auf.
Es fordert dem Hörer einiges ab, das neue Album von Verena von Horsten. Die zehn Lieder stürzen mit aufbrausendem Getöse und galoppierendem Donner hinunter in eine seelische Tiefe, an deren Boden, gleichsam im stillen Auge dieses Sturms, der Wunsch nach Menschlichkeit sitzt. Vor drei Jahren, als Verena von Horstens letztes Album erschien, ein Duett aus Surf und Swing mit dem Winterthurer Admiral James T., wählte von Horstens Bruder den Freitod.
Verena von Horsten verabschiedete sich nach dieser Tragödie aus der Schweiz, ging dank Künstlerförderung nach New York, und lernte langsam, eine Sprache für ihren Schmerz zu finden – für den aus dem engsten Familienkreis, aber auch allgemein für die innersten Ängste, Verletzungen und Soziopathien, die der Mensch nur schwer nach aussen dringen lässt. «Alien Angel Super Death» ist an manchen Stellen – und insbesondere im Beiheft des Albums, das einen Abschiedsbrief an den verstorbenen Bruder enthält – von einer offensiven Intimität, die verstören kann, aber von Horsten geht es um mehr als die Offenlegung seelischer Zustände.
«Alien Angel Super Death» ist ein Erfahrungsschatz, der dazu auffordern will, sein Gegenüber ernst zu nehmen. Dazu bedient sich von Horsten einer dichten, ausufernden musikalischen Sprache, lässt Trommeln wirbeln und Synthesizer dröhnen, um danach wieder in Momente der Zerbrechlichkeit zu verfallen, wo ihre klare Stimme einsam in der Leere kreist. Dass «Alien Angel Super Death» dennoch weit über die therapeutische Funktion hinausragt, liegt an der Musikalität der Sängerin: An potenziellen Hits wie «The Hymn» oder «Sweet Lullaby» mangelt es dem Album nicht. Eine der reichsten Platten des ausgehenden Musikjahres 2015.
Verena von Horsten, Sie haben den Suizid Ihres Bruders zum Thema Ihres neuen Albums gemacht. Was für ein Prozess steckt hinter dieser Entscheidung?
Nachdem mein Bruder vor drei Jahren gestorben ist, reagierte ich mit einer Verweigerungsphase. Ein halbes Jahr lang wollte ich normal weiterfunktionieren und erkrankte schliesslich an einer Depression, in der ich selbst an Suizid dachte. Da drängten sich Fragen auf: Was tue ich dagegen, dass ich nicht den gleichen Weg gehe? Ich musste meinem Leben eine neue Wendung geben, um die Verhaltensmuster, die zu Suizidgedanken führen, zu erforschen. Dazu gehören Traumata aus verschiedenen Erfahrungen im Leben, aber jede Krise eröffnet auch die Chance, herauszufinden, warum man ist, wie man ist. Und was man dagegen machen kann, denn es gibt ja viele professionelle Hilfsmöglichkeiten, um sich vom Wunsch nach dem eigenen Tod wegzuziehen. Ich hatte in meiner Jugendphase eine schlimme Zeit und war während zehn Jahren in einer Therapie. Nach dem Suizid meines Bruders nahm ich das wieder auf.
Sie verarbeiten diesen Prozess mit Ihrem Album nun öffentlich, um dem Gespräch über den Suizid einen Raum zu geben?
Das ist Teil des Prozesses. Der Tod meines Bruders war sicher der Wendepunkt. Wenn man nicht mal in der Familie über die eigene Verletzlichkeit zu reden weiss, kann das zum Tod führen. Ich wollte nicht, dass er umsonst starb. Nach jedem Interview, jedem Gespräch über das Album merke ich, wie verschlossen das Gespräch über Suizid noch immer ist. Ich glaube, dass wir als Menschen noch nicht an dem Punkt sind, die grösstmögliche Empathie zu zeigen. Doch auf der anderen Seite ist das eine der schönsten Erfahrungen mit diesem Album: festzustellen, dass ich über meine Schattenseiten sprechen kann, und sie werden angenommen.
Sie rechneten mit Distanznahme?
Und mit Ablehnung. Es ist eine Realität, dass man die schlimmsten Ängste nicht zum Thema machen will. Das Album entstand aus der Entscheidung, Schattenseiten des Menschseins nicht mehr zu unterdrücken, sondern sie anzusprechen. Damit bin ich nicht alleine, habe ich festgestellt. Das Bedürfnis danach ist etwas Ur-Menschliches.
Das Bedürfnis zu reden?
Ja. Viele Menschen haben die Erfahrung gemacht, dass man selbst den engsten Freunden seinen Schmerz nicht immer anvertrauen kann. Egal, wie tief jemand traumatisiert ist, das Reden darüber bleibt häufig an der Oberfläche stecken. Das Grundthema meiner Platte ist die Transformation der eigenen Schatten. Dafür muss man darüber zu reden beginnen, mit sich und mit anderen. Ich glaube, darin fühlen sich jene aufgehoben, denen die Platte zusagt.
Die Musikgeschichte ist reich an Liedern, in denen tiefe, verzweifelte Seelenzustände verarbeitet werden. Gehört «Alien Angel Super Death» in diese Tradition hinein?
Die Frage ist nicht zentral für mich. Jeder Künstler, jede Künstlerin muss für sich entscheiden, was er oder sie aus dem Innern nach aussen trägt oder für sich behält. Für mich ist das jedoch eine zentrale Aufgabe der Kunst. Wo, wenn nicht hier, ist es Menschen möglich, ihr Inneres nach aussen zu tragen? Kunst muss hier eine Vorreiterrolle einnehmen. Ich bin von Haus aus mit sehr extremen Regeln aufgewachsen und konnte lange nicht so leben, wie ich es als richtig empfand. Musik ist ein Weg, Unterdrücktes rauszulassen und Normen aufzulösen. Zwischenmenschlich habe ich mich jedoch noch lange bemüht, nach aussen einem bestimmten Bild zu entsprechen und aus Angst vor Ablehnung mein Inneres in mir drin zu halten.
Das hat sich mit Ihrem neuen Album verändert?
Ja, das war ein Turnaround. Ich kann nicht von anderen erwarten, dass sie ihre Maske runterreissen und ihre Verletzlichkeit zeigen, aber mich selbst weiterhin verschliessen. Und ich kann sagen, es tut sehr gut, wenn man sich davon befreit hat.
Ist diese Überzeugung nicht weitherum sichtbar? Die Angebotsvielfalt auf dem therapeutischen, spirituellen und religiösen Markt wächst.
Sie wächst extrem, ja. Ich sehe das auch an meinem Album, wie ausführlich es in den Medien behandelt wird. Allerdings: Mit einem Therapeuten zu reden ist eine Sache, mit dem persönlichen Umfeld, Freunden, Familie, etwas anderes, Schwierigeres. Aber ich will meinen persönlichen Prozess auch nicht grösser machen, als er ist, ich bin nur Teil eines Ganzen und Resultat einer Entwicklung, die andere vor mir angestossen haben.
Kunst, Musik, ein Album sind ja keine unmittelbaren Ausdrucksformen, sondern folgen einer ästhetischen Idee. Die müsste man zuerst wieder zurückübersetzen, um das tatsächlich Menschliche dahinter zu finden. Wie funktioniert das bei «Alien Angel Super Death»?
Das stimmt nur zum Teil. Wenn man nur die Musik hört und weniger auf die Textebene achtet, dann hängt alles an der Stimmung, die ein Song verbreitet, und alles Persönliche, was hineingesteckt wurde, ist abstrahiert. Das ist der Zauber der Musik – man lässt etwas raus in den Äther, ohne kontrollieren zu können, was beim Empfänger ankommt. Aber ich glaube, wenn das Interesse geweckt ist, widmet man sich auch stärker den Texten und findet vielleicht den Weg auf meine Website, wo die Geschichte dieser Platte ausführlicher dokumentiert ist.
«Alien Angel Super Death» ist eine völlige Abkehr von Ihrer früheren Musik. Wie hängt das mit dem Thema zusammen?
Ein halbes Jahr nach dem Tod meines Bruders zog ich für ein Stipendium nach New York. Die Stadt verfügt über eine Energie, die man in der Schweiz nicht findet. Auch wenn ich noch völlig blockiert war dort und nur drei Songs schreiben konnte, hat mir New York musikalisch sehr viel gegeben. Ich habe viele Konzerte gespielt und durfte feststellen, dass meine Ideen angenommen werden, anstatt dass sie anecken. Das war eine schöne Erfahrung. Als ich das erste Mal mit einem Analog-Synthesizer arbeitete, ging ein Universum auf – eine solche Vielfalt an Sounds! Das Piano konnte mir ästhetisch nichts Neues geben. Wollte ich künstlerisch einen Schritt vorwärts machen, musste ich mich in neue Gefilde begeben. Und lernen: Wie produziert man Drumbeats? Wie komponiert man Streicherarrangements? All das wollte ich erfahren, um mein Album selbst einspielen, aufnehmen und produzieren zu können.
Sie veröffentlichten Ihr Album beim Label A Tree In A Field Records des Baslers Marlon McNeill. Was ist Ihr Bezug?
Mein Vorgänger des Stipendienaufenthalts in New York war Fai Baba, dessen Musik auf demselben Label erscheint. In der Wohnung, die zum Stipendium gehörte, klebten überall diese Sticker mit dem Label-Logo. Das hatte mein Interesse geweckt. Mir wurde bald klar, dass dieses Label nur veröffentlicht, was den Menschen dahinter gefällt. Wir brauchten viel Zeit, damit ein sicheres Gefühl für die Zusammenarbeit entstehen konnte. Ich wüsste nicht, welches andere Label in der Schweiz so eine Platte veröffentlicht hätte.
Ist musikalisch dieses Thema für Sie abgeschlossen? Oder wird es Sie, auch ohne Ihr Zutun, als Stigma Ihrer Musik weiter begleiten?
Ein Stigma auf keinen Fall, das wäre zu negativ. Es wird sich zeigen. Jedes Album widerspiegelt, was mich gerade beschäftigt, aber ich glaube, als Musikerin habe ich das Thema vorläufig durchgearbeitet. Das Album selbst durchlebt eine Kreisbewegung, an deren Ende ein neuer Anfang möglich wird. So ist das immer, wenn man sich von Grund auf durch ein Thema arbeitet – man schafft ein neues Erkenntnisfundament, von dem aus man weitergehen kann. Auch musikalisch: Dieses Album ist sehr dicht und wuchtig und voll von übereinander gestapelten Spuren. Es ist nun an der Zeit, wieder mehr Ruhe zu schaffen.
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Verena von Horsten: «Alien Angel Super Death», A Tree In A Field Records.
Live am Freitag, 11. Dezember, Kaserne Basel.