Was zählt, ist was passiert – Lyrik im Netzwerk

Junge Menschen und Lyrik finden selten zusammen. Doch genau diese Verbindung will das Netzwerk «Babelsprech» fördern: Junge Poesie bündeln und öffentlich machen, in Prozessen statt Produkten. Was bedeutet das genau? Eine Spurensuche.

(Bild: Hans-Jörg Walter)

Junge Menschen und Lyrik finden selten zusammen. Doch genau diese Verbindung will das Netzwerk «Babelsprech» fördern: Junge Poesie bündeln und öffentlich machen, in Prozessen statt Produkten. Was bedeutet das genau? Eine Spurensuche.

Wenn das Basler Literaturhaus seine Tore zum 14. Lyrikfestival öffnet, dominieren die grossen Namen: Die Nobelpreisträgerin Herta Müller gibt sich die Ehre, der Lyrikpreis geht 2017 an Walle Sayer. Uns aber interessiert, was sich abseits der grossen Bühne tut, wir betreten den Lift, drücken den Knopf und fahren ins Untergeschoss. Was tut sich im Maschinenraum der Poesie? Ist da jemand? 

Walle Sayer (56) ist deutscher Schriftsteller und Dichter. Die Jury würdigt ihn für seine «präzise und wahrhaftige Dichtung. Mit seinem bedachten Schreiben, dem ungekünstelten Blick auf das Einfache, gelingt ihm eine Weltbetrachtung, die den Menschen hinter den Dingen hervortreten lässt.»
Der mit 10’000 Franken dotierte Preis wird von der GGG gestiftet.

Aber ja. Zwei junge Autorinnen, beide wohnhaft in Basel, bilden die Speerspitze einer jungen lyrischen Bewegung mit Hauptsitzen in Berlin, Wien und Basel, die alles daran setzt, das Genre zu entstauben. Es sind Michelle Steinbeck (26) und Simone Lappert (31), die  bereits als Autorinnen ansprechender Prosa-Debüts ihre Spuren hinterlassen haben, als Lyrikerinnen allerdings weniger öffentlich in Erscheinung getreten sind.

Bisher.

Lapperts «Wurfschatten» (2014) wurde von der Sonntagszeitung als das «Debüt des Jahres» geadelt, Steinbecks Erstling «Mein Vater war an Land ein Mann und im Wasser ein Walfisch» (2016) stand auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis.

Als Absolventinnen des Schweizerischen Literaturinstituts in Biel mag ihnen der Erfolg in der Prosa näher liegen, doch Bequemlichkeit ist ihre Sache nicht: Babelsprech, ihr jüngstes gemeinsames Engagement, hat weder mit offiziellen Schreibschulen noch mit Prosa viel am Hut.

Graswurzelbewegung der Dichterszene

Man kann Babelsprech als sogenannte Graswurzelbewegung der Dichterszene skizzieren: Drei Autoren aus Deutschland (Max Czollek), der Schweiz (Michael Fehr) und Österreich (Robert Prosser) finden sich 2013 zusammen und rufen eine trinationale lyrische Allianz ins Leben. Die Plattform dient von Anfang an dem Austausch und der Sichtbarmachung jungen lyrischen Schaffens. Bis 2016 eine Ausdehnung des Wirkungsradius und neue Personalien ins Spiel kommen: Steinbeck und Lappert übernehmen die Schweizer Koordination von Fehr.   

Vor 2013 mangelte es der Schweiz an einem Zentralorgan für lyrisches Schaffen, «seither hat sich einiges getan», sagt Steinbeck. Aber sie sagt auch: «Da geht noch mehr.» Babelsprech versteht sich als Netzwerk, als Schreib- und Denkwerkstatt, als kritischer Salon für alle. «Wir richten uns an junge Dichterinnen und Dichter, die auch mal raus wollen aus ihren verträumten Dachstuben», sagt Lappert und Steinbeck fügt an: «Vor allem aus Liechtenstein fehlen uns noch Leute. Schreiben Sie das ruhig als Aufruf!» Gerne.

Dichterinnen und Dichter aus Liechtenstein: Babelsprech will euch.

Wie muss man sich die Arbeit bei Babelsprech konkret vorstellen? Was ist das eigentlich, ein Netzwerk? Zum einen ist da die Infrastruktur: Babelsprech bietet Mitgliedern eine online-Plattform, auf der sie Profile anlegen und Texte hochladen können. Babelsprech.org dient damit dem digitalen Austausch unter den Teilnehmenden und gleichzeitig als Anlaufstelle für eine interessierte Öffentlichkeit, über 120 Profile führt die Homepage aktuell

Der digitale Diskurs wird in regelmässigen Abständen zum Analogen. Zum Beispiel an Lesungen, die die Mitglieder von Babelsprech auf eigene Faust oder in Kooperation mit Literaturhäusern oder Festivals veranstalten. Auch am Lyrikfestival Basel war Babelsprech schon vertreten.

Oder an Klassentreffen wie jenem im Dezember 2016, als sich 24 Dichterinnen und Dichter unterschiedlichster Herkunft in Salzburg versammelten. Das Motto: «Lyrik für alle». Steinbeck und Lappert feiern die Internationalität von Babelsprech, die neuerdings mit Partnern in Slowenien, Holland und der Ukraine über den deutschsprachigen Raum hinausreicht. «In Salzburg sass eine Ukrainerin neben einem Südtiroler, der neben einem Deutschen, der neben einer Slowenin», sagt Lappert, «da kann es schon mal vorkommen, dass Kriegsgedichte neben Poemen über Gurken vorgetragen werden.» Ein guter Ausgangspunkt, um über die Relevanz und Wirkmächtigkeit von Poesie zu streiten.

Und das auch live. Auf YouTube liessen sich die Debatten der Salzburger Konferenz zum ersten Mal im Internet mitverfolgen, «Lyrik für alle» im Wortsinn.

Leider lassen sich die Aufzeichnungen der Babelsprech-Diskussionen nicht in diesem Artikel einbetten, unter diesem Link sind sie aber einsehbar.

Nicht allen passt diese radikale Öffentlichkeit. «Die Arbeit vor Publikum – auch einer Kamera – ist klar anders als in Schutzräumen», sagt Steinbeck, «der Livestream war eine Gratwanderung.» Die Phasen des Schaffens seien idealerweise wertungsfreie Phasen, «indem sie aber öffentlich stattfinden, bekommen sie den Charakter einer Aufführung.» Womit sich die Texte und Argumente einem Urteil aussetzten.

Genau dieses Moment versucht Babelsprech zu unterwandern. Fragen wie «Ist das gut? Ist das schlecht?» werden zurückgestellt. Am runden Tisch in Salzburg wird darüber debattiert, ob ein Gedicht sexistisch und gewalttätig ist oder nur entsprechende Sprachmuster paraphrasiert. Es wird darüber debattiert, ob das Poem über den Ukrainekonflikt den Krieg nicht zum ästhetischen Akt erhebt. Das sind Debatten über poetologische Verfahren, keine Qualitätskontrollen.

Denn für Babelsprech gilt: Was zählt, ist erst einmal das, was passiert. Und hierin unterscheidet sich das Netzwerk wieder von den üblichen Mechanismen des Kulturbetriebs, wo meistens die Bühne, das heisst der Ort für fertige Texte im Vordergrund steht. Was auf dem Weg dahin geschieht, ist Sache der Dichterinnen und Dichter. Dem will das Netzwerk entgegenwirken. Indem es das Verfahren in den Vordergrund rückt. Indem es Hierarchien auflöst und Türsteher überflüssig macht. Indem es hybride Öffentlichkeiten schafft, die sowohl Arbeitszimmer als auch Podien sind.

Die Zahnräder im Maschinenraum der Lyrik: sie drehen.

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Internationales Lyrikfestival Basel: 27. bis 29. Januar, im Literaturhaus an der Barfüssergasse 3. Zum Programm bitte hier entlang.
Simone Lappert wird das Gespräch mit Levin Westermann nach dessen Lesung führen. Sonntag, 29. Januar 2017, 15.30 h

Die Beiträge der TagesWoche zu den Debüts von Steinbeck und Lappert

  »» Debütroman übers Älterwerden: Jetzt ist das Kind tot und die Dinge nehmen ihren Lauf

  »» Zu viel Freiheit macht Angst: Das Romandebüt von Simone Lappert


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