Was zeichnet das Werk von Alexijewitsch aus? Das literarische Interview in Perfektion

Swetlana Alexijewitsch hat den Nobelpreis für Literatur erhalten, aber was zeichnet ihr Werk aus? Die Antwort ist simpel: Sie zeichnet ein ehrliches Bild der postsowjetischen Gesellschaften, indem sie Menschen zu Wort kommen lässt.

Belarussian author Svetlana Alexievich speaks with journalists as she walks out of her apartment in Minsk, Belarus, October 8, 2015. Alexievich has won the Nobel Prize for Literature for her portrayal of life in the former Soviet Union which the Swedish Academy said was "a monument to suffering and courage in our time." REUTERS/Vasily Fedosenko

(Bild: VASILY FEDOSENKO)

Swetlana Alexijewitsch hat den Nobelpreis für Literatur erhalten, aber was zeichnet ihr Werk aus? Die Antwort ist simpel: Sie zeichnet ein ehrliches Bild der postsowjetischen Gesellschaften, indem sie Menschen zu Wort kommen lässt.

«Geboren in der UdSSR, das ist eine Diagnose.» Dieser Satz zieht sich durch die Bücher von Swetlana Alexijewitsch. Ihre Aufgabe sieht die frisch gekürte Literaturnobelpreisträgerin darin, die Patienten sprechen zu lassen. Die Schriftstellerin selbst rückt dabei in den Hintergrund.

Wenn es Literatur gibt, die Wahrheit ist, dann die von Swetlana Alexijewitsch. Sie selbst wurde in der Ukraine geboren, ist in Weissrussland aufgewachsen und schreibt auf Russisch. Schon als Kind lernte sie aufmerksam zuzuhören. Als Journalistin verfeinerte sie ihre Methode, die sie letztlich zum «Roman der Stimmen» führte.

Manche Protagonisten dürfen ganze Kapitel füllen, andere einen Satz hinzufügen, der sich in einem Stimmengewirr verliert. So entsteht ein ambivalentes und vielseitiges Bild der postsowjetischen Gesellschaften, das auf Tonbandaufnahmen basiert. Sie hat das Genre des literarischen Interviews perfektioniert. Beim Lesen hat man das Gefühl, mit den Protagonisten ihrer Werke am Küchentisch zu sitzen. Den Nobelpreis erhielt sie «für ihr vielstimmiges Werk, das dem Leiden und Mut in unserer Zeit ein Denkmal setzt».

Swetlana Alexijewitsch stellt die Frage, warum auf den Zusammenbruch der Sowjetunion nicht die Demokratie folgte, sondern viele neue Diktaturen entstanden. Am Sonntag wird sich der weissrussische Diktator Alexander Lukaschenko wieder wählen lassen. Für sein Regime ist die Wahrheit, die Alexijewitsch erzählt eine Gefahr. In Minsk, wo sie lebt, findet man ihre Bücher nicht in den Läden. Sie wird von den staatlich kontrollierten Verlagen und Kulturbetrieben weitestgehend ignoriert. Dennoch lebt die 67-Jährige weiter in der Hauptstadt. Weil sie ihre Bücher nur dort schreiben kann, wie Alexijewitsch selbst sagt.

Swetlana Alexijewitsch stellt die Frage, warum auf den Zusammenbruch der Sowjetunion nicht die Demokratie folgte, sondern neue Diktaturen entstanden.

Ihre Protagonisten berichten vom Leben, das sie auf den Trümmern des Sozialismus aufgebaut haben. Ihre Texte erzählen von Gastarbeitern aus dem Kaukasus, die in den Kellern Moskaus leben. Von der Inteligenzija, deren Fähigkeiten nach dem Zerfall der Sowjetunion nichts mehr wert sind. Von Menschen, die ihr halbes Leben im Archipel Gulag verbracht haben und dennoch voller Nostalgie auf die Sowjetunion zurückblicken.

Und dann gibt es noch die Geschichte von Romeo und Julia, die eigentlich Margarita und Abulfas heissen. Die Armenierin Margarita, die den Wind ihrer Heimatstadt Baku über alles in der Welt liebt, doch die Stadt und ihren Mann verlassen musste, als zwischen Armenien und Aserbaidschan der Krieg ausbrach.

Alexijewitsch bleibt bei ihren Erzählungen im Hintergrund und lässt die Figuren selbst sprechen. Es sind immer wieder die Menschen, die während der Sowjetunion Alexander Solschenizyn lasen und bei Küchengesprächen so taten, als seien sie Dissidenten. Einige von denen, die einst auf die Demokratie und Boris Jelzin hofften, sind nun zu Sowjetnostalgikern geworden.

Sowok – für viele ist der «Sowjettyp» ein Schimpfwort für diejenigen, die der Sowjetunion nachtrauern, für Alexijewitsch ist es eine wertfreie Benennung für Menschen, die vom Zerfall des Sozialismus nichts zu erwarten haben. Es geht aber auch um diejenigen, die gleich nach dem Zerfall des Sozialismus zu anderen Menschen wurden. Die sich in dem neuen System zurecht finden – die Zufrieden mit ihrem Leben sind.

Das Nobelpreiskomitee zwingt uns mit dem Preis für Alexijewitsch nun, all diesen Menschen zuzuhören. Und wer sich ihres Werkes annimmt, wird vor allem eines entdecken: Leiden und Mut. Manchmal erzählen ihre Bücher auch beides. In «Tschernobyl» erzählt Ludmila Ignatienko der Nobelpreisträgerin, wie ihr Mann Wassily Ignatienko eines Morgens im April 1986 geweckt wurde, um den Reaktor ohne Schutzkleidung zu löschen.

Eine Geschichte über die Liebe oder den Tod – vielleicht ist es sowieso dasselbe, erzählt die Protagonistin in «Tschernobyl».

Sie erzählt, dass sie nicht weiss, ob sie eine Geschichte über die Liebe oder den Tod erzählt und ob nicht beides sowieso dasselbe sei. Ihr Mann kam Abends nicht zurück und wurde bereits am nächsten Tag ins Krankenhaus eingeliefert. Sie durfte ihn eigentlich nicht mehr anfassen, doch weil eine Freundin von ihr im Krankenhaus arbeitete, tat sie es doch. Sie brachte ihm Milch, doch die musste er ausspucken, weil sein Körper sie nicht mehr ertrug. Kurz darauf wurde er nach Moskau gebracht.

Ludmila Ignatienko folgte ihrem Mann auch dorthin. Sie verschwieg, dass sie im sechsten Monat schwanger war, um zu ihrem Mann gelassen zu werden. Anfangs sah er normal aus, spielte Karten und konnte sprechen. Dann wurde sein Zustand Tag für Tag schlimmer. Ludmila blieb und kochte für all die Verstrahlten – obwohl niemand, der am Reaktor war, noch Essen konnte. Am 9. Mai 1986 konnten sich Ludmila und Wassily noch das Feuerwerk in Moskau ansehen. Er bezahlte die Krankenschwester, damit sie Ludmila einen Strauss Blumen übergab. Dann fing Wassily Ignatienko an, sich wegen der Strahlung buchstäblich aufzulösen. Seine Frau blieb bei ihm, bis er starb.

All diese Geschichten sind wahr. All ihnen gibt Swetlana Alexijewitsch eine Stimme. Sie sprechen durch sie. Sie ist eine von ihnen. Geboren in der UdSSR.

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