Wenn Theater zu nahe an der Wirklichkeit spielt

Die Aufführung von «Breiviks Erklärung» sorgt für eine heftige Kontroverse über die Grenzen der künstlerischen Freiheit auf der Bühne.

Dem Monster ins Gesicht schauen: Mit seinem Stück will Milo Rau aufzeigen, dass Breiviks Gedanken Ausdruck einer verbreiteten Geisteshaltung sind. (Bild: Keystone/ Lise Aserud)

Die Aufführung von «Breiviks Erklärung» sorgt für eine heftige Kontroverse über die Grenzen der künstlerischen Freiheit auf der Bühne.

Es sind nicht immer umstrittene Ideen des Regietheaters, die heftige Diskussionen auslösen können. Ab und zu sorgt auch der Inhalt für Zoff. Das war vor 50 Jahren so, als Rolf Hochhuth in seinem Stück «Der Stellvertreter» das Schweigen von Papst Pius XII. zur Judenvernichtung thema­tisierte und damit im beschaulichen Basel einen regelrechten Kulturkampf auslöste. Und das ist nun, wenn auch nicht in ganz so heftigem Ausmass, aktuell wieder so: beim Gastspiel von Milo Raus Reenactment «Breiviks Erklärung» im Rahmen der Basler Dokumentartage «It’s the Real Thing».

Losgetreten wurde das Ganze durch eine überraschende Absage: Zehn Tage vor dem Aufführungs­termin vom 19. April verbannte der Basler Bürgerrat das Theaterprojekt aus dem Stadthaus, wo es laut ­ur­sprüng­lichem Plan hätte aufgeführt werden sollen. Man wolle im Bürgergemeinderatssaal keinen Text mit ­rassistischem Inhalt und Hintergrund sprechen lassen, so die Argumentation. Glück für die Veranstalter, dass sie mit der Gare du Nord kurzfristig einen Ersatzspielort finden konnten.

Rechtsradikaler Inhalt?

Basel ist nicht die erste Station, bei der die szenische Lesung der Verteidigungsrede des rechtsextremen norwegischen Massenmörders Anders Breivik auf Ablehnung stösst. Im Oktober 2012 distanzierte sich das Nationaltheater Weimar von der Produktion, und vor zwei Wochen lud das Münchner Haus der Kunst die Aufführung kurzfristig wieder aus.

Man wolle «eine Grenze setzen, was man im Theater zeigen kann» liess sich der Geschäftsführer des Weimarer Theaters, Thomas Schmidt, in der Berliner «tageszeitung» zitieren. Und in München berief man sich laut der «Süddeutschen Zeitung» auf eine Klausel im Mietvertrag, «die rechtsradikale und antisemitische Inhalte ausschliesst».

Für Milo Rau sind diese Argumente nicht wirklich nachvollziehbar. «Die Angst darüber, sich in etwas verwickeln zu lassen, dessen Folgen man nicht abschätzen könne, kann ich nachvollziehen», sagt er. Den Vorwurf, dass er rassistischen und rechtsradikalen Inhalten eine Plattform biete, weist er indes weit von sich. Rau will mit seinem Projekt nach eigenen Angaben aufzeigen, dass die Gedankenwelt des Monsters Ausdruck einer verbreiteten Geisteshaltung sei. «Wir lauschen hier einer Rhetorik und einem Argumentarium, mit der zum Beispiel in der Schweiz jedes Jahr Abstimmungen gewonnen werden», lässt er auf seiner Website verlauten.

Betont distanziert

Und auch von einer Verkörperung Breiviks auf der Bühne kann keine Rede sein. So wird die Rede des Rassisten von der deutsch-türkischen Schauspielerin Sascha Ö. Soydan, also explizit von einer Exponentin der von Breivik verhassten Durch­mischung der Kulturen, mit betonter Distanz zum Text gelesen.

Milo Rau beschreitet damit einen ähnlichen Weg wie der deutsche Filmemacher Romuald Karmakar. In seinem Dokumentar-Spielfilm «Das Himmler-Projekt» aus dem Jahr 2000 liest der Schauspieler Manfred Zapatka die berüchtigte Posener Rede von SS-Reichsführer Heinrich Himmler, in der dieser offen und erstmals unverschleiert «die Ausrottung des jüdischen Volkes» rechtfertigte.

Der Schauspieler liest den Text ruhig und in verständlichem Duktus vor und verzichtet auf die Nachahmung der quäkenden Stimme mit dem rollenden «R» des SS-Mannes, die heute unfreiwillig komisch wirken kann. Der Film wurde 2001 in den dritten Programmen der ARD ausgestrahlt, als eindrückliches Dokument gelobt und mit wichtigen Preisen bedacht.

Lesung aus «Mein Kampf»

Warum nun diese unterschiedlichen Reaktionen, zumal Himmlers Rede unvergleichlich scheusslichere Aussagen enthält als der an und für sich langweilige Text von Breivik?

Offensichtlich stösst die Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit auf der Bühne heute auf mehr ­Akzeptanz als die Konfrontation mit der rechtsextremen Gegenwart, zumindest beim mehr oder weniger auf­geklärten Publikum. So feierte der türkischstämmige deutsche Musiker und Kabarettist Serdar Somuncu mit seiner szenischen und kommentierten Lesung aus Hitlers «Mein Kampf» zwischen 1996 und 2000 Riesenerfolge.

Über 250’000 Zuschauerinnen und Zuschauer liessen sich von der Art mitreissen, wie er Hitlers Gedankenwelt ins Lächerliche zog. Einzig bei den Neonazis kam das Programm ganz und gar nicht an. Aufgrund ernstzunehmender Drohungen musste Somuncu sogar Polizeischutz in Anspruch nehmen. Aktuell ist Somuncu mit dem Programm «Hass­prediger reloaded» auf Tournee, die ihn am 26. Mai auch ins Basler Stadtcasino bringen wird.

Es ist also die Nähe zur Gegenwart, zur aktuellen Wirklichkeit, die im Fall von «Breiviks Erklärung» für Konflikte sorgt. Theaterkritiker Peter Kümmel stört sich in der «Zeit» an der Tatsache, dass das Theaterprojekt die Opfer ausblende und Breivik eine Geschichte verkörpere, die nicht zu Ende sei. «Ich lese gerne Literatur über Mörder (und manchmal sogar von Mördern). Aber erst dann, wenn die Mörder tot sind – wie ihre Opfer», schreibt er, und: «Dieser Breivik wird sich auf der Bühne nicht durch Taten erniedrigen und verraten; er bleibt ganz Denker; er bewahrt seine Souveränität.»

Wellen der Empörung

Dass ein solches Unterfangen auf der Bühne als besonders heikel empfunden wird, ist kein Zufall. Das Live-Medium Theater konfrontiert sein ­Publikum um einiges unmittelbarer mit seinen Themen als der Film; es ­atmet gewissermassen die gleiche Luft wie die Personen oder in diesem Fall die Verkörperung des Massenmörders auf der Bühne.

«Im Theater begegnet man dem Publikum auf ­Augenhöhe, es fordert damit auch ­direkte Reaktionen heraus», sagt Boris Nikitin, Initiant und Projektleiter des Basler Festivals, dazu. Wenn das Theater nun die Aura der darstellenden Künste durchbricht und statt Literatur ein Stück unangenehmer Wirklichkeit auf die Bühne holt, kann dies für Verunsicherung sorgen.

Einer, der damit oftmals über die Schmerzgrenze hinaus spielte, war der 2010 verstorbene deutsche Theateraktionist und Filmer Christoph Schlingensief. 2001 holte er für seine «Hamlet»-Inszenierung im Zürcher Schauspielhaus tatsächliche und scheinbar ausstiegswillige Neonazis auf die ehrwürdige Pfauenbühne. Für viel Aufregung und heftige Diskussionen vor allem im Vorfeld der Premiere war gesorgt. Ein reiner Akt der Provokation? Nicht nur. In seinen autobiografischen Skizzen schreibt Schlingensief: «Man kann doch nur etwas vertreiben, was man auch ungeschützt und ungesichert an sich ranlässt.»

Milo Rau ist ein ­Aufklärer, der ein Faible für heikle Themen besitzt.

Dieser Satz trifft auch für Milo Raus Arbeiten zu. Ein eigentlicher Provokateur ist der Dokumentartheater­macher aber nicht, eher ein Aufklärer, der ein Faible für besonders heikle Themen besitzt. Dabei ecken Stoffe, die geografisch und kulturell weit von der Wirklichkeit des hiesigen Publikums weg angesiedelt sind, weniger an. So löste sein Projekt «Hate Radio»­, das Reenactment einer Live­sendung einer populären Radiostation in Ruanda, die ihre Hörerschaft mit wüsten Hassbotschaften zum Völkermord aufhetzte, kaum Grund­satz­diskus­sionen aus.

Ganz anders erging es dem Regisseur, als er 2010, vom Theater St. Gallen beauftragt, für eine «theatrale Ausstellung» zur Ermordung des St. Galler Lehrers Paul Spirig durch einen aus dem Kosovo stammenden Vater zu ­recherchieren begann. Alleine der ­Arbeitstitel «Der St. Galler Lehrermord» löste eine solch heftige Welle der Empörung aus, dass das Theater das Projekt wenige Tage nach seiner öffentlichen Ankündigung absetzte.

Zurück aber zu «Breiviks Erklärung». Er sei anfänglich skeptisch gewesen, das Stück, das ursprünglich als einmalige Aktion konzipiert war, in München und Basel erneut spielen zu lassen, sagt Milo Rau. «Die Reaktionen in München und Basel zeigen aber, dass das Thema nach wie vor ­relevant ist und es dadurch offensichtlich richtig ist, den Abend noch einmal zu zeigen.»

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 19.04.13

Nächster Artikel