Am 21. Januar 1985 veröffentlichte Don DeLillo seinen grossartigen Roman «White Noise». Und auch wenn die Hardware veraltet scheint: Die hellsichtigen Einblicke in unsere konsumbesessene Gesellschaft sind zeitlos.
Die Shopping Mall, Hohetempel des Konsums und irdisches Paradies unter einem Dach, hat in den Vereinigten Staaten von Amerika schon bessere Tage gesehen. 2007, ein Jahr vor dem Ausbruch der Finanzkrise, wurde erstmals seit 50 Jahren kein neues Einkaufscenter gebaut, und von den heute bestehenden 1000 Malls schliessen etwa 150 ihre Tore in den nächsten zehn Jahren. Nostalgiker dokumentieren mit ihren Kameras die verlassenen Anlagen, an denen der Modergeruch eines überlebten Lifestyles haftet.
Vor 30 Jahren, als Don DeLillo (zur Person) seinen Roman «White Noise» veröffentlichte, war das noch anders. Die Shopping Mall mit ihrer raffinierten Inszenierung von Sehnsüchten und deren sofortiger Befriedigung bot die perfekte Kulisse für eine Geschichte, die so erschütternd wie erheiternd, so dramatisch überbordend wie leer ist. Im Zentrum der Handlung steht Jack Gladney, ein Professor für Hitler-Studien an einem amerikanischen College im Mittleren Westen der USA – Hitler deshalb, weil sich der Mann ohne Eigenschaften gegen die eigene Vergänglichkeit immunisieren will.
Spirituelle Dimension
Denn dieser Gladney laboriert an einer Midlife-Crisis, die ihn nächtens schweissgebadet aufschrecken lässt, immer zu ungeraden Uhrzeiten. «Was bedeutet das?», fragt sich der Professor, der seine Ehefrau Babette und die diversen Kinder aus früheren Ehen im gemeinsamen Haushalt nicht in seine Ängste einweihen mag. Da kommen die rituellen Ausflüge ins Shoppingcenter gerade recht, wo die Transaktion von Geld gegen Waren eine Zufriedenheit und «Fülle des Seins» bewirkt, die nicht nur für Gladney eine spirituelle Dimension annimmt.
Doch die «ereignislosen Tage», von denen der Professor hofft, dass sie nie vergehen mögen, sind gezählt. Ein verunfallter Güterzug setzt eine Giftwolke frei, die das ohnehin angeschlagene Selbstbewusstsein Gladneys erschüttert: Ein Jahr vor dem Reaktorunglück in Tschernobyl (und, bescheidener, dem Grossbrand in Schweizerhalle) schilderte DeLillo den Zusammenbruch einer technologisch hochgerüsteten Gesellschaft, die sich in ihrer Existenz plötzlich durch ebendiese Technologie bedroht sieht.
«White Noise» ist ein grossartiges Buch, das auch den Einbruch der Apokalypse in einen gleichförmigen Alltag klug zu absorbieren weiss und den weiteren Fortgang der Geschichte toxisch auflädt. Das latente Gefühl einer Bedrohung wächst sich zu einer handfesten Paranoia aus, während Gladney einem mysteriösen Psychopharmakon hinterherjagt. Zuletzt besorgt sich der verzweifelte Professor eine Pistole – der Terrorisierte wird selbst zum Terroristen, obwohl er doch nur allzu gut weiss, dass jeder Plot auf dasselbe Ende hinausläuft: den Tod.
Makellose Sprache
Hochschulfarce, Familiensoap, Katastrophenfilm und Thriller – Don DeLillo bringt in seinem Roman die unterschiedlichsten Genres zusammen und überlagert sie zum Sittenbild einer entfremdeten Gesellschaft. Die Dialoge sind atemberaubend geschrieben, ein Wortspiel jagt das nächste, auch nach wiederholter Lektüre verblüffen die gedanklichen Hakenschläge (zumindest im Englischen). Die Familienszenen sind präzis, die Paargespräche schonungslos und die Sprache ist so makellos geschliffen, dass man sich an den Worten mit Vergnügen schneidet.
Weisses Rauschen wird als Geräusch mit einem konstanten Leistungsdichtespektrum definiert und etwa gegen Tinnitus, als Einschlafshilfe oder Lärmschlucker in Grossraumbüros eingesetzt. In «White Noise» beschreibt das Sinnbild das Hintergrundrauschen der Popkultur, der Werbeversprechen und Medien, die uns vor einer widrigen Wirklichkeit abschirmen und uns gerade deshalb verletzlich machen. Dass Internet und Smartphones keine Rolle spielen, tut der Hellsichtigkeit von «White Noise» keinen Abbruch, verhält es sich doch gleich wie im Strassenverkehr: Je mehr Kanäle offenstehen, desto lärmiger wird es. Und «White Noise» rauscht stärker denn je.