Urs Widmer ist nach langer Krankheit gestorben. Ein trauriger Tag für die Schweiz, die Literatur und für mich. Der Autor hat mich mit dem Roman «Im Kongo» verändert. Für immer.
Urs Widmer wird mir fehlen. Obwohl ich nie die Ehre hatte, den Schriftsteller persönlich kennenzulernen, verdanke ich ihm mehr, als er geahnt hat. Irgendwann wollte ich ihn zum Spaziergang auf das Bruderholz einladen, zu einem Gespräch über Basel und seine Kindheit in dieser Stadt. Verschämt hätte ich ihm dabei wahrscheinlich die Geschichte erzählt, wie er mich zum Leser gemacht hat.
Ich war 19 Jahre alt, als ich das erste Buch des Autors in die Hand nahm. Nicht ganz freiwillig. Für die Berufsmatur musste ich im Deutschunterricht drei Bücher lesen. Meine zufällige Auswahl: «Sturmhöhe» (Emily Brontë), «Im Kongo» (Urs Widmer) und irgendein drittes Buch, dessen Titel ich längst vergessen habe.
In der Sekundarschule hatte ich zwar das eine oder andere Buch durchgeblättert, aber lesen – das war nichts für mich. Comics, Fernsehen, Videospiele, Mädchen, all das war viel spannender. Bis ich «Im Kongo» landete. Die Geschichte des Altenpflegers Kuno, der in den Kongo reist und über Nacht schwarz wird, packte mich. Ich wusste damals nicht, was es war: die Verwebung von Zeitgeschichte mit Fiktivem (Erzählungen von Kunos Vater über seine Tätigkeiten während des Zweiten Weltkriegs)? Die Anlehnung an die politischen Geschehnisse im damaligen Zaïre? Die Bierbrauerei im Kongo? Die Wendungen in der Geschichte? Heute weiss ich: Es war die Mischung.
Und so wie Kuno über Nacht schwarz wurde, bin ich durch ihn zum Leser geworden.
Ich war fasziniert, wie Widmer in seinem Roman eine Geschichte vorantrieb, gleichzeitig eine zweite und eine dritte erzählte. Wie er Beziehungen zwischen Söhnen und Vätern thematisierte, politisches Geschehen auch – und dennoch unglaubliche Begebenheiten einstrickt. Der Protagonist wird über Nacht einfach schwarz. Zack. Man stockt kurz an der Stelle, überlegt, was das soll. Gleichzeitig zieht es einen weiter in die Geschichte hinein, weil man nur noch wissen will, wie der Schriftsteller aus diesem Manöver wieder herauskommt. Urs Widmer schaffte es. Er schaffte es, eine fantastische Geschichte so zu erzählen, als ob es wirklich die Geschichte eines Altenpflegers aus Zürich wäre. Ich war fasziniert vom «Zauberer, dem alles gelang», wie ihn der «Tages-Anzeiger» so treffend im Nachruf nennt.
Und so wie Kuno über Nacht schwarz wurde, bin ich durch ihn zum Leser geworden. Inzwischen habe ich alles von Urs Widmer gelesen (und vieles mehr), ihn bei Lesungen gehört. Für mich entdeckt, dass die Mischung aus Fantasie, Zeitgeschichte und klassischem Roman typisch Widmer ist – genau wie die unerwarteten Wendungen. Nur zu gerne habe ich auch andere verführt mit seinen Büchern, ihnen diese schmackhaft gemacht mit einzelnen Absätzen oder nur einem Satz aus seiner Autobiographie «Am Rande des Universums»: «Wyni ist tot, Peter ist tot, und Pauli fühlt sich auch nicht wohl.» So knapp, so schelmisch, so vielsagend, so widmerisch.
Urs Widmer war nicht irgendwer
Nicht alles gefiel mir gleich wie «Im Kongo» oder seine Autobiographie – aber es spielt keine Rolle mehr. Kuno, der Kongo und die Brauerei mitten in Afrika haben mich verändert. Für immer. Unser Spaziergang auf dem Bruderholz wird nicht mehr stattfinden. Nach langer Krankheit ist Urs am Mittwoch gestorben. Und nach den vielen Nachrufen fühle ich mich bestätigt, dass mich nicht irgendjemand zum Leser gemacht hat, sondern einer der grössten Schriftsteller des deutschsprachigen Raumes.
Es mag pathetisch klingen, aber wenn Urs Widmer nicht gewesen wäre, würde ich vielleicht diese Zeilen nicht schreiben. Lesen ist der Anfang vom Schreiben, haben mir die Dozenten während des Journalismus-Studiums eingebläut. Wenn nur ein Quäntchen Wahrheit darin steckt, verdanke ich Urs Widmer mehr als nur wundervolle Lektüren und die Liebe zu den Büchern, sondern auch meinen Beruf. Herzlichen Dank, Urs Widmer – für alles.
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Der Text basiert auf einer Würdigung zum 75. Geburtsag von Urs Widmer.
Mehr Artikel zum Tod von Urs Widmer:
Komischer Tragiker: Der Schriftsteller Urs Widmer gestorben (NZZ)
Zum Tod von Urs Widmer Er wollte daran erinnern, dass die Welt einmal schöner war (FAZ)
Und ein lesenswertes Interview mit aus dem «Magazin» mit Urs Widmer vom 20. September 2013: Wie geht das, das Leben?
Weitere Interviews:
«Ein Darsteller des brüchigen Glücks» – in «Der Zeit».
«Es schreibt in mir» – Radiointerview auf BR.
«Glück gibt es ja auch auf Erden» – in «Die Welt».