Der Walliser Regisseur Claude Barras hat sich mit seinem Animationsfilm «Ma vie de Courgette» zack ins Rennen um den Oscar katapultiert. Wie fühlt sich das an? Ein Gespräch über grosse Köpfe und kleine Budgets – und warum Kinderfilme ruhig traurig sein dürfen.
Erst mal Courgette begrüssen. Claude Barras sitzt im Hotel Krafft und öffnet vorsichtig die mitgebrachte Kunststoffbox. «Voilà!» Er lacht und holt eine kleine Figur mit grossem Kopf und erschöpften Augen heraus. Willkommen Courgette, kleiner Mann! Courgette sagt nichts – kein Wunder, seine Münder liegen noch in der Holzschachtel:
Der Walliser Illustrator und Regisseur ist gerade auf Pressereise, und da darf der kleine Junge aus Silikon und Latex nicht fehlen – schliesslich ist er der Protagonist von «Ma vie de Courgette», Barras‘ jüngstem Animationsfilm, der die Cineasten in Cannes begeisterte und nun im Rennen für einen Oscar ist. Grossartig, diese Aufmerksamkeit für einen Animationsfilm, oder? Claude Barras hebt fast entschuldigend die Schultern. «Klar.» So recht kann er es wohl selbst noch nicht glauben.
Lieber erklärt er, wie Courgette funktioniert: bewegliche Augenlider, kleine Magnete unter der Farbe, an denen man Mund oder Augenbrauen nach Gusto befestigen kann. Ganze neun Exemplare gibt es von dieser Figur, dem kleinen Jungen, der nach dem Tod seiner Mutter in ein Kinderheim kommt und mit den traurigen Schicksalen seiner Kameraden konfrontiert wird. Trotz schwerer Thematik ist «Ma vie de Courgette» kein trauriger Film, auf die zum Teil grausamen Erlebnisse der Kinder wird nur behutsam Bezug genommen.
Monsieur Barras, «Ma vie de Courgette» behandelt schwere Themen: Gewalt in der Familie, Alkoholismus, Sexualität. Ist es ein Film für Kinder oder für Erwachsene?
Die Buchvorlage von Gilles Paris ist wohl eher für Erwachsene gedacht, unser Szenario richtet sich aber an Acht- bis Zwölfjährige. Natürlich haben wir einige der gewalttätigeren Aspekte beibehalten, um Kontrast zu schaffen für die schönen Szenen. «Ma vie de Courgette» ist auf jeden Fall ein offen gehaltener Film für Kinder, der auf eine zweite Ebene verzichtet: Es gibt darin keine Sachen, die nur Erwachsene verstehen. Wir wollen den Kindern auf Augenhöhe begegnen.
Ist das etwas, was Sie in aktuellen Produktionen für Kinder vermissen?
Ja, schon. Es gibt natürlich auch in Filmen von Disney und Pixar interessante Themen und psychologische Dimensionen. Doch werden die oft von den Schauwerten überdeckt. Ich möchte dagegen realistische Geschichten mit den poetischen Mitteln der Animation erzählen. Ein Kind sagte mir nach einer Vorführung, es habe beim Schauen völlig vergessen, dass es sich dabei um einen Trickfilm handelt. Das ist eines der schönsten Komplimente überhaupt.
Was für Rückmeldungen haben Sie sonst noch bekommen?
Der Film hat den meisten Kindern gefallen, weil die Geschichte nahe an ihrer eigenen Erfahrungswelt ist. Viele fühlten sich von den Figuren auch an Kinder in ihrem eigenen Umfeld erinnert, die aus ähnlich schwierigen Verhältnissen stammen. Gerade für Schulklassen kann der Film eine Chance bieten, diese Dinge anzusprechen.
Wann haben Sie die Geschichte entdeckt?
Das war vor zehn Jahren. Ich mochte das Buch von Gilles Paris sehr und wollte direkt einen Film daraus machen. Aber es war kompliziert, weil die Handlung wie eine Chronik aufgebaut ist, mit vielen Personen und Episoden. Also mussten wir zuerst die Figuren reduzieren und um sie herum die Geschichte filmisch neu konstruieren.
Nach welchen Kriterien haben Sie das Buch adaptiert?
Der Film durfte nicht zu lang werden, weil wir nur ein beschränktes Budget zur Verfügung hatten. Also habe ich beschlossen, dass das Heim mit vier bis fünf Kindern auskommen muss, zu denen Courgette und Camille neu dazustossen. Im Buch gab es neben der Schule ausserdem weitere Schauplätze, das war zu aufwendig. Die Konfrontation der Kinder mit der Aussenwelt habe ich deshalb auf eine einzige Szene in den Skiferien beschränkt.
Und wie hat Gilles Paris der fertige Film gefallen?
Sehr, sehr gut. Er sagte, er habe damit seine eigene Geschichte neu entdecken können.
«Ma vie de Courgette» ist Ihr erster Langfilm. Was war die grösste Herausforderung?
Ich habe zuvor schon einige Kurzfilme gedreht, an den Dreharbeiten zum ersten Schweizer Animations-Langfilm «Max & Co» war ich ebenfalls beteiligt. Deshalb hatte ich eine ziemlich gute Vorstellung vom Wechselspiel zwischen künstlerischen Entscheiden und den Auflagen eines Budgets, das bei uns acht Millionen Franken betrug. Ich habe also darauf geachtet, dass die Puppen leicht zu bedienen waren und dass es nicht zu viele Dekors gab. Das Komplizierteste aber war das Zeitmanagement.
Keine einfache Sache bei einem Animationsfilm.
Absolut. Vor dem Drehen bereitet man alles vor, nimmt die Stimmen der Schauspieler auf und so weiter. Das dauert ein Jahr. Dann stehen 15 Bühnen zur Verfügung: Jeweils fünf davon werden vorbereitet für eine Szene – die Beleuchtung wird verändert, das Dekor, die Kameraeinstellungen. An den übrigen Bühnen arbeiten zehn Animatoren gleichzeitig, die ungefähr 30 Sekunden Film pro Tag herstellen. Wir haben aufgrund ihrer prozentualen Häufigkeit im Film eine minimale Anzahl an Figuren hergestellt, insgesamt 52 Stück. Courgette allein gibt es in neunfacher Ausführung.
Die Figuren erinnern ein wenig an die Animationsfilme von Tim Burton. Was waren Ihre Einflüsse für «Courgette»?
Ich mag Burtons Arbeit sehr: Mein Film wirkt ein bisschen wie Tim Burton in Farbe. (lacht) Aber es gibt auch den tschechischen Puppentrickfilmer Jiří Trnka, dessen grossköpfige Figuren mich beeinflusst haben. Die grossen Köpfe bringen Emotionen besser zur Geltung. Selbst wenn man mit einer Totale arbeitet, sind die Gefühle der Personen immer noch erkennbar. Und natürlich ist es für die Animatoren leichter. Das habe ich bei «Max & Co» gelernt: Wenn etwas zu klein ist, braucht es zusätzliche Instrumente für die Animation, und es dauert länger.
Als Schweizer Regisseur haben Sie ein französisches Buch verfilmt, jetzt ist «Ma vie de Courgette» für einen Oscar als bester Animationsfilm nominiert. Wie erklären Sie sich diesen Erfolg?
Der Film steckt voller Emotionen, und wir haben das Drehbuch, die Dialoge und auch die Musik von Sophie Hunger bewusst sehr minimal gehalten. Oftmals werden im Kino die Einstellungen zu schnell gewechselt, ich habe dagegen versucht, den Gefühlen ihren Raum und auch die nötige Stille zu geben. Ich glaube, das ist mir recht gut gelungen. Und ich bin sehr zufrieden, weil man mir vor Drehbeginn davon abgeraten hatte: Es brauche ständig etwas Neues, damit Kinder nicht das Interesse verlieren. Aber das ist nur die Sicht der Erwachsenen, tatsächlich sind Kinder neugierig und wollen eine Geschichte auch einmal anders erzählt bekommen.
«Bei Aufführungen in den USA gab es im Anschluss Diskussionen über Trumps Einwanderungspolitik.»
Und dann sind da noch die universellen Themen, die uns alle berühren …
Richtig. Jedes Kind erlebt schwierige Momente in seinem Leben, und dass sich aus solchen Widrigkeiten dennoch etwas Positives entwickeln kann, ist eine wichtige Botschaft des Films. Bei Aufführungen in den USA gab es zum Beispiel im Anschluss viele Diskussionen zu Trumps Einwanderungspolitik. Vor fünf Jahren, als ich mit dem Projekt begann, existierte dieser Zusammenhang noch nicht, vielleicht kann der Film gewissen Zuschauern deshalb etwas Hoffnung geben.
Sie haben Sophie Hunger erwähnt: Wie kam es zu der Zusammenarbeit?
Nach dem Aufnehmen der Stimmen zeichnete ich die Storyboards und testete die Länge der einzelnen Szenen. Dazu spielte ich «Le vent nous portera», was sehr gut funktionierte. Darauf hatte mein Produzent Max Karli die Idee, Sophie Hunger mit der Musik zu beauftragen. Wir haben drei Wochen in Berlin aufgenommen, das war sehr nett.
Eine hypothetische Frage zum Schluss: Monsieur Barras, Sie haben den Oscar gewonnen …
(lacht)
… was sagen Sie in Ihrer Dankesrede?
Ich werde bestimmt meinem ganzen Team danken, das mit so viel Liebe und Hingabe gearbeitet hat. Ich werde auch sagen, dass die Hälfte der Beteiligten Frauen waren – das ist selten genug im Kino und muss erwähnt werden. Und dann werde ich ein wenig über das Thema des Films sprechen und vielleicht eine kleine Anspielung machen: dass der Film nämlich Mauern einreissen will, dass …
Beep! Und damit wird die Übertragung abgebrochen.
(lacht) Genau.