Wochenstopp: Anna Karenina

Bettina Oberli macht sich im Basler Schauspielhaus auf die Suche nach ihrer Bilderwelt.

Bettina Oberli: Die Filmemacherin bringt Tolstois «Anna Karenina» ins Theater. (Bild: Roland Schmid)

Bettina Oberli macht sich im Basler Schauspielhaus auf die Suche nach ihrer Bilderwelt.

Eben noch durften wir im Kino das opulente Theatrum Mundi der «Anna Karenina»-Verfilmung von Joe Wright ­besichtigen, eine raffinierte Theatermetapher auf eine untergehende Gesellschaft. Im Zentrum steht eine Mutter und Frau, die aus den gesellschaftlichen Konventionen ausbricht. Alles ist Theater, alles spielt sich vor Kulissen ab. Der Oscar ging an die Ausstattung, obwohl das dünnhäutige Kulissenspiel der Keira Knightley nicht ausreichte, um dieser wankelmütigen, selbstsüchtigen Frauenfigur jene Tiefe zu geben, mit der der sozialistische Graf Tolstoi die Irrwege dieser Frau in seinem Roman ausgelotet hatte.

In Basel geht man nun den entgegen­gesetzten Weg. «Anna Karenina» folgt ­einer Filmregisseurin ins Theater. Bettina Oberli ist eine der erfolgreichsten Filmemacherinnen der Schweiz («Tannöd», «Herbstzeitlosen»). Sie hat in ihren Filmen einen unbestechlichen Blick für die guten Augenblicke ihrer Schauspielerinnen bewiesen. Sie trifft nun im Theater auf Reduktion: ein Raum. Ein kleines Team. Ein Text, der sich auf die Geschichte dreier Paare konzentriert. Sie macht sich mit Zoe Hutmacher (als Anna) und einem Basler Team auf eine Spurensuche beim russischen Moralisten Tolstoi. Drei Paare. Drei Modelle von Liebe.

Ein Wagnis für die Filmemacherin

Armin Petras hat hierfür die Vorlage geliefert, oder besser: Form und Dialog, die aus dem allumfassenden Werk von Tolstoi den Kern destillieren, mit dem sich Bettina Oberli neu beschäftigt und dabei viel riskiert. Es ist ihre erste Theaterarbeit. Dennoch wirkt sie nicht wie eine Frau, die mit dem Risiko spielt – eher zurückhaltend und pflichtbewusst neugierig. Wer es, wie sie, als Filmemacherin gewohnt ist, alles zu kontrollieren, über jeden Schnitt in letzter Hand zu entscheiden, geht dennoch ein Wagnis ein, wenn sie sich auf eine Ensemblearbeit einlässt, in der sie vieles anderen überlassen muss, oder wie sie sagt: «überlassen darf». Es sei nämlich das überraschend Schöne für sie in der Theaterarbeit, dass sie so aufgehoben sei (Interview mit Bettina Oberli). Just das Spannungsfeld von Wagnis und Geborgenheit, das «Anna Karenina» zur Weltliteratur macht, interessiert die Regisseurin auch privat. Als Mutter sei auch sie dauernd gezwungen, sich zwischen Risiko und Absicherung zu entscheiden. Im Zarismus konnte es eine Mutter wohl noch das Leben kosten, wenn sie die Freiheit der Entscheidung in Anspruch nehmen wollte. Aber auch heute würde die Sehnsucht nach Freiheit von den familiären Verpflichtungen durchkreuzt.

Während Anna mit ihrem Modell scheitert und letztlich an dieser Einsicht zugrunde geht, finden die beiden anderen Paare zwar Erfolg, aber eben auch keine Erkenntnis. «Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; aber jede unglück­liche Familie ist unglücklich auf ihre eigene Art.» So liefert Tolstoi selbst den Erkenntnisgewinn, den er seinen Figuren verweigert: Nur Anna erkennt in ihrem Lebensentwurf den Fehler und beendet ihn.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 05.04.13

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