Xavier Koller: «Es gibt keine Schweizer Liebesfilme»

Über 20 Jahre nach seinem «Oscar»-gekrönten Film «Reise der Hoffnung» hat der in den USA lebende Schweizer Regisseur Xavier Koller (68) erstmals wieder einen Film in der Schweiz gedreht. Zum Basler Filmstart von «Eine wen iig, dr Dällebach Kari» hat die TagesWoche mit Koller über seinen neuen Film, seine Arbeit in den USA und über künftige Filmprojekte gesprochen.

Regisseur Xavier Koller (Bild: Keystone)

Über 20 Jahre nach seinem «Oscar»-gekrönten Film «Reise der Hoffnung» hat der in den USA lebende Schweizer Regisseur Xavier Koller (68) erstmals wieder einen Film in der Schweiz gedreht. Zum Basler Filmstart von «Eine wen iig, dr Dällebach Kari» hat die TagesWoche mit Koller über seinen neuen Film, seine Arbeit in den USA und über künftige Filmprojekte gesprochen.

Herr Koller, wie sind Sie eigentlich auf die Geschichte des «Dällebach Kari» gestossen?

Xavier Koller: Ich bin vor rund fünf Jahren von der Produktionsfirma Condor Films angefragt worden, ob ich auf der Grundlage von Livia Anne Richards Theaterstück «Dr Dällebach Kari» ein Drehbuch schreiben würde. Ich hatte zunächst Bedenken. Kurt Frühs «Dällebach Kari» aus dem Jahr 1970 mit Walo Lüönd in der Hauptrolle hat sich hierzulande in den Köpfen festgesetzt. Ich wollte auf keinen Fall ein Remake von Frühs Klassiker machen. Nachdem ich mich intensiv mit dem Stoff befasst hatte, wurde mir aber rasch klar, dass ich diesen Film unbedingt machen wollte. Glücklicherweise ist es mir später gelungen, die Drehbuchrechte zurückzukaufen und den Film zusammen mit Alf Sinniger und unserer Firma Catpics AG zu produzieren.

Was ist das Reizvolle an diesem Stoff?

Bei den Recherchen über den historischen Walter Tellenbach hat mich vor allem eine Frage beschäftigt: Was es am Ende des 19. Jahrhunderts bedeutete, mit einer Hasenscharte auf die Welt zu kommen. Mit dieser Behinderung am Mund war die Überlebenschance für ein Kind gleich Null. Tellenbachs Mutter hat den Kleinen wie einen Vogel gefüttert, bis er selber essen konnte – ein erstaunliches Beispiel von Mutterliebe. Diese enge Verbindung mit der Mutter und Tellenbachs spätere Verehrung der Frau – diese Thematik hat mich gepackt.

Ausserdem gibt es keine Schweizer Liebesfilme. Die Beziehung Karis zu Annemarie ist eine wunderbare Liebesgeschichte – diese wollte ich einfach verfilmen.  

Über den historischen Karl Tellenbach, der von 1877 bis 1931 in Bern lebte, gibt es sehr wenig biografisches Material: Besteht nicht die Gefahr, dass man zu viel in eine eigentlich unbekannte Person hineininterpretiert?

Sie haben Recht, über Tellenbach ist fast nichts bekannt. Man weiss nur, dass er wahrscheinlich ein Verhältnis mit einer Frau hatte. Wenn kaum biografisches Material vorliegt, ist man beim Filmemachen ja völlig frei. Und abgesehen davon: Jede fimische Annäherung an die Wirklichkeit ist geprägt von einer subjektiven Betrachtungsweise. 

Ihre Filme handeln oft von Aussenseitern und Randständigen. Woher kommt diese Fixierung?

Es ist sicher kein bewusster Akt. Wenn ich auf die bisherigen Filme zurückschaue, muss ich aber zugeben: Ja, es stimmt, Aussenseiter spielen eine wichtige Rolle in meinen Filmen. Vielleicht, weil ich Aussenseiter sympathisch finde und weil ich mich schon immer mehr für die Schwächeren interessiert habe als für die Starken. Und weil ich es spannend finde, wie die Benachteiligten oft einen Weg finden und sich trotz vieler Hindernisse in der Gesellschaft etablieren können. 

Mit Ihrem «Dällebach Kari» haben Sie erstmals seit über 20 Jahren wieder einen Film in der Schweiz gedreht – haben Sie als Wahlamerikaner Heimweh bekommen?

Nein, ich bin ja immer wieder mal in der Schweiz. Ich habe hier in den letzten Jahren verschiedene Drehbücher verfasst, Werbefilme und auch einen TV-Film gemacht. Sicher aber ist, dass unsere Familie in Los Angeles bleiben wird – auch wegen unserer Tochter, die jetzt 15 Jahre alt ist und in Los Angeles in die Schule geht.  

Mit dem «Oscar», den Sie 1991 für Ihren Film «Die Reise der Hoffnung» erhalten hatten, wurden Sie auf einen Schlag international bekannt. Wenn Sie heute auf die letzten 20 Jahre zurückschauen – inwieweit hat der «Oscar» Ihr Berufsleben verändert?

Dank dem «Oscar» konnte ich in den USA viele wertvolle Erfahrungen sammeln; das wäre vorher nicht so leicht möglich gewesen. Was aber die konkrete Arbeit betrifft, hat sich nicht viel verändert. Man macht in den USA auf dieselbe Art Filme wie in der Schweiz. Ausser vielleicht, dass in den Vereinigten Staaten die Teams grösser sind und mehr Geld fliesst.  

Sie erlitten in Hollywood Rückschläge. Die Filme «Squanto» und «Cowboy Up» kamen nie ins Kino. Das muss frustrierend für einen Regisseur sein.

«Squanto» wurde zunächst in rund 2000 Kinos in den USA herausgebracht, dann aber von Disney nach ein paar Wochen zugunsten von «Pocahontas» zurückgezogen. Es war wirklich ein Riesenpech: Der Filmkonzern hatte gleichzeitig zwei Filme in Arbeit, deren Inhalte sehr ähnlich waren – und zwei interne Produktionsabteilungen, die nicht miteinander kommunizierten. Dass Disney letztlich «Pocahontas» den Vorzug gab, war rein ökonomisch begründet: Animationsfilme erreichen in den USA ein grösseres Publikum als herkömmliche Filme mit menschlichen Schauspielern. Bei «Cowboy Up» gab es ein anderes Problem. Kurz vor Filmstart ging die Verleihfirma, die den Film gekauft hatte, bankrott – und der Film verschwand jahrelang in der Konkursmasse. Sony hat den Film dann später gekauft und als Homevideo herausgegeben. So läuft halt das Geschäft in den USA.

Seither haben Sie mit Hollywood nicht mehr viel zu tun.

Ich bekam später weitere Drehangebote. Ich habe diese aber abgelehnt, weil mich entweder der Stoff nicht interessierte oder weil ich die Drehbücher nicht gut fand. So handeln Sie sich in Hollywood natürlich schnell mal den Ruf ein, ein komplizierter Mensch zu sein. Aber damit kann ich gut leben. Mich haben Independent-Filme ja sowieso immer mehr interessiert als Hollywood-Filme. 

Dann haben Sie den Umzug in die USA also nie bereut?

Ganz und gar nicht. Als Filmemacher hat mich dieser Wechsel reifer gemacht. Ich konnte meine Neugier befriedigen, die USA-Erfahrung hat meine Art zu denken erweitert und mich beim Filmemachen insgesamt sicher auch mutiger gemacht.

Wie schätzen Sie als Wahlamerikaner das aktuelle Schweizer Filmschaffen ein?

Es gibt hierzulande viele talentierte und engagierte junge Leute. Wahrscheinlich braucht der Schweizer Film aber einfach noch ein wenig Zeit, um auch international erfolgreicher zu werden. Ich habe bei den Dreharbeiten für den «Dällebach Kari» sehr schöne Erfahrung gemacht. Ich hatte eine Superequipe, die äusserst passioniert und kreativ zu Werke ging. Das war vor ein paar Jahren noch ganz anders in der Schweiz. 

Dem Schweizer Film wird ja gerne nachgesagt, er sei langweilig.

Das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass die Drehbücher hierzulande oft nicht gut genug sind: Dass man vor die Kamera geht, bevor Story und Charaktere fertig ausgearbeitet sind. Die Schauspieler müssen dann Halbfertiges spielen – das kommt nie gut. Auch das Wort «kommerziell» hat bei vielen Schweizer Filmschaffenden noch immer eine negative Prägung. Zu Unrecht. Denn «kommerziell» muss ja nicht banal, publikumsunterwürfig oder billig heissen. 

Was bedeutet denn «kommerziell» für Sie?

Erfolg zu haben, das Publikum involvieren zu können – das sollte ja jeder Kulturschaffende wollen. 

Bald drehen Sie einen neuen Film: «Die schwarzen Brüder». Worum geht es in diesem Film? 

Das Drehbuch basiert auf dem gleichnamigen Jugendroman von Lisa Tetzner und Kurt Kläber. Diese Geschichte spielt wie der «Dällebach Kari» im 19. Jahrhundert und handelt von Tessiner Buben, die von ihren mittellosen Eltern nach Mailand verkauft wurden und dort als Kaminfeger unter erbärmlichsten Bedingungen arbeiten mussten. Es geht erneut um Benachteiligte, die sich dann aber in Mailand zu einer Bande zusammenraufen und sich erfolgreich gegen die Ausbeutung wehren – eine richtige Abenteuergeschichte mit Tiefgang. 

Quellen

Nächster Artikel