Gleich ist er weg: Künstler Jan Hostettler läuft während acht Monaten von Basel nach Istanbul. Ein letzter Besuch vor der grossen Reise.
Die Hummeln im Hintern merkt man ihm nicht an. Jan Hostettler steht entspannt in seinem Atelier im oberen Teil der Klingentalkirche und setzt Kaffee auf, während er mit dem Fotografen über die Essgewohnheiten in Osteuropa plaudert («Fleisch, dich erwartet viel Fleisch!» – «Naja, eigentlich esse ich sehr selten Fleisch.» – «Das wird sich ändern! So viel Fleisch da!»). Versatzstücke seiner Werke stehen herum, Teile von Mauerwerk, Fotos, grosse Bögen Papier. Muss alles noch weggeräumt werden, bevors losgeht: Hostettler hat das Atelier für die Zeit, in der er unterwegs ist, an eine Freundin untervermietet.
So, der Kaffee ist fertig. Er setzt sich hin, beugt sich über die grosse Landkarte, die aufgeschlagen auf dem Tisch liegt. Dann kommen sie urplötzlich, die Hummeln: «Es muss jetzt einfach losgehen!» Lange genug habe sich diese Idee in seinem Kopf schon eingenistet: zu Fuss Richtung Osten, der Donau entlang, über Österreich, Ungarn, Bulgarien bis nach Istanbul. Acht Monate lang, im Gepäck nur ein paar Kleider, zwei Kameras, Notizbücher.
Einmal querbeet bis nach Istanbul: Jan Hostettlers Route. (Bild: Alexander Preobrajenski)
Hostettler ist ein Künstler, dessen Werke Gegensätze nahtlos miteinander verbinden: Stadt und Natur, Alltag und Ausnahme, Kunst und Handwerk. Wie bei der Arbeit «Nest, 22.2.2014»: ein Vogelnest, das er bei einer seiner Basler Stadtwanderungen in der Nähe einer Chemiemülldeponie fand und später auf einem weissen Sockel ausstellte. Eine zarte Konstruktion aus Gräsern, Kot, Vogelfedern und PVC.
Aber nicht nur. Zu diesen sichtbaren Komponenten gesellen sich unsichtbare Ahnungen: Chemikalien, Lindan, verseuchter Boden, ein verlassenes Zuhause. Dazwischen fliessende Grenzen, genau wie jene, die man erlebt, wenn man lange unterwegs ist und sich flüssig von einer Umgebung in die andere begibt.
Laufen ist gut für die Augen
Kein Wunder wirkt es wie das Natürlichste der Welt, wenn Hostettler vom Laufen erzählt. Für ihn ist es gleichzeitig Tätigkeit und Methode – er macht Kunst mit dem, was er beim Laufen erlebt und findet, aber auch einfach, indem er läuft. Irgendwann habe er gemerkt, dass Laufen hilfreich fürs Sehen sei, beim Laufen speichere er sinnlich so viel wie sonst nie. Woran das wohl liegt? Hostettler überlegt lange. «Vielleicht weil die Erfahrung so unmittelbar ist. Da sind keine Kanäle dazwischen.»
Wie erfahren wir eine Landschaft, wenn wir sie durchlaufen? Was findet den Weg in unsere Wahrnehmung? Was geschieht mit den Dingen, die an den Rändern unseres Bewusstseins vorbeihuschen, kaum gesehen und doch immer einflussreich? Grosse Fragen, die durch die Distanz hindurch ihren Weg nach Basel finden werden: Etwa alle zwei Wochen wird Hostettler ein Foto an einen Drucker schicken, das darauf in einem kleinen Schaufenster am Klingentalweglein aufgehängt wird. Als analoger Blog, wenn man so will.
Ein letztes Zusammenräumen und weg ist er: Jan Hostettler in seinem Atelier in der Klingentalkirche. (Bild: Alexander Preobrajenski)
Kurz bevor die Kaffeetassen leer sind, holt Hostettler noch ein Buch hervor, das er uns mit auf den Rückweg gibt: «Kindergeschichten» von Peter Bichsel. «Viel Spass beim Lesen.» Er schmunzelt.
Ein paar Tage später, wir sind längst wieder auf der Redaktion und Jan Hostettler ist bereits losgelaufen, lese ich die erste Erzählung. Sie handelt von einem Mann, der sich nach gründlicher Überlegung aufmacht, die Welt zu entdecken. «Ich weiss», sagt dieser, «wenn ich immer geradeaus gehe, komme ich an diesen Tisch zurück. Das weiss ich. Aber das glaube ich nicht, und deshalb muss ich es ausprobieren.»
Gut gesagt.