70 schwierige Jahre

Das Verhältnis der Schweiz zu Europa ist seit jeher ein kompliziertes. Ein Rückblick in Zitaten.

«Let Europe arise!» Mit Winston Churchill fing alles an. Seine Vision eines vereinigten Europas verkündete er nach dem Krieg in Zürich. (Bild: Hans Staub)

Das Verhältnis der Schweiz zu Europa ist seit jeher ein kompliziertes. Ein Rückblick in Zitaten.

In ihrer Unübersichtlichkeit, Komplexität und Grösse ist sie kaum zu fassen. Und gerade darum ist es jene Frage, die die Schweiz im nächsten Jahrzehnt politisch am meisten beschäftigen wird. Wie stellen wir uns zu Europa? Wie bringen wir den steigenden Druck, den die europäischen Institutionen auf die Schweizer Politik ausüben, in Einklang mit dem gross und grösser werdenden Widerwillen der Bevölkerung gegenüber der EU? Und wie lässt sich die auf vielen verschiedenen Ebenen stattfindende Diskussion so bündeln, dass sie nicht in Fachsimpeleien der Technokraten ausfranst, sondern zu einem Ideenaustausch unter gleichberechtigten Bürgern wird?

Vielleicht mit einem Blick zurück. In die Zeit der klaren Verhältnisse. Die kleine Zusammenstellung soll helfen, etwas besser zu verstehen, wie wir in die ungemütliche Lage von heute gelangen konnten. In der alle wissen, dass es nicht so weitergehen kann. Aber es niemand zu sagen wagt.

 

«Der Kampf der gegensätzlichen politischen Systeme in andern Ländern berührt unsern Staat nicht.»
Bundespräsident Johannes Baumann, 21. März 1938

Es ist das Drama einer aussterbenden Generation. Die kleine Schweiz im Sturm der Welten, bedroht von allen Seiten, ungeschützt. Österreich liess sich eben jubelnd den Nazis anschliessen und die Schweizer Bevölkerung erwartet von ihrer politischen Führung ein Signal. Sie erwartet Haltung.

Die Erklärung des Bundespräsidenten vom März 1938 (und die gemeinsame Antwort aller Fraktionen) ist dieses Signal. Es ist ein weitreichendes: Mit der Erklärung von Johannes Baumann wurde die Schweizer Aussenpolitik nicht nur für die Kriegszeit, sondern auch weit darüber hinaus definiert. Die Schweiz als Sonderfall mitten in Europa, als unberührtes Gebiet aufrechter und wackerer Eidgenossen. Es war dies der kleinste gemeinsame Nenner der geistigen Landesverteidigung: wir gegen alle anderen.

 

«Let Europe arise!»
Winston Churchill, 19. September 1946

Es entbehrt darum nicht einer gewissen Ironie, dass ein Engländer (ausgerechnet) in der Schweiz (ausgerechnet) jene politische Vision skizzierte, die in den kommenden Jahrzehnten in Grundzügen verwirklicht wurde und mit der heutigen Krise wieder infrage gestellt wird. Der britische Premierminister Winston Churchill sprach in der Aula der Uni Zürich (unter grossem Jubel der lokalen Bevölkerung) von den «Vereinigten Staaten von Europa», die ausgehend von einem starken Duo Frankreich–Deutschland das darniederliegende Europa wiederbeleben sollten.

In diesem Verbund würden kleine Nationen gleich viel wie grosse zählen, sagte Churchill, aber er meinte damit nicht explizit die Schweiz. Dass diese Rede, die allgemein zu den wichtigsten und frühesten Darstellungen der europäischen Idee zählt, ausgerechnet in der Schweiz gehalten wurde – ein Zufall.

 

«La Suisse de toujours doit garder sa vie propre en face du monde et ne pas devenir un petit état absorbé par le Leviathan germano-franco-italien.»
Alt-Regierungsrat Albert Picot (LDP), 18. Oktober 1957

Wie schwer sich die Schweiz mit der europäischen Idee tatsächlich tat, zeigten die Jahrzehnte nach Kriegsende, als – wie von Churchill vorausgesagt – auf Drängen von Frankreich und Deutschland die europäische Annäherung begann. Der Schuman-Plan und die daraus entstandene Montanunion von 1951 (ein Wirtschaftsraum für zollfreien Handel mit Kohle und Stahl) und die Römischen Verträge von 1957, mit denen die europäische Zusammenarbeit auf eine breite institutionelle Basis gestellt wurde, wurden in der Schweiz – in den Worten von Historiker Georg Kreis – «höchst ungnädig» aufgenommen: «Der Schuman-Plan bot Gelegenheit, ein zentralistisches Feindbild und Gegenmodell zur föderalen und vermeintlich ultraliberalen Schweiz zu bilden.»

Ausdruck fand das unter anderem in einem längeren Exposé des ehemaligen Genfer Regierungsrats Albert Picot, der nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge die kulturelle Autonomie und die kleinstaatliche Unabhängigkeit bedroht sah. Bereits zehn Jahre vorher hatte Heinrich Homberger, Direktor des «Vororts» (der heutigen Economiesuisse) gesagt: «Rein wirtschaftlich gesehen, wird die Einspinnung der Schweiz in internationale Organisationen zu einer ungeheuer gefährlichen Sache. (…) Wir dürfen es wagen, unsere wirtschaftliche Gesundheit mit unseren eigenen Mitteln zu verteidigen.» Diese eigenen Mittel beinhalteten unter anderem die EFTA, das 1960 gegründete Gegengewicht zur EWG. Zehn Jahre lang funktionierte diese alternative Freihandelszone nicht schlecht, zehn Jahre lang war die Schweiz Teil einer grösseren Verbindung und profitierte davon. Zu Beginn der 70er-Jahre allerdings verlor die EFTA rasant an Bedeutung, die grössten Mitglieder wechselten zur EG, die Schweiz blieb aussen vor.

 

«In der Verbesserung der schweizerischen Europafähigkeit liegt ein wichtiger Schlüssel für die Bewältigung unserer Zukunft.»
Bericht des Bundesrats über die Stellung der Schweiz im europäischen Integrationsprozess, 24.8.1988

Im gleichen Masse, wie Europa zusammenrückte, entfernte sich die Schweiz von der Union. Die Nachteile des Abseitsstehens wurden nun immer offensichtlicher und der Bundesrat wollte Abhilfe schaffen. Sein Instrument war der Europabericht von 1988, der zwar keine Integration in die neu entstandenen Institutionen vorsah und einen EG-Beitritt mit Hinweis auf die eigene Neutralität ablehnte, aber gleichzeitig den Ausbau der «Europafähigkeit» propagierte. Die Chancen der Schweiz, auch unter komplexer gewordenen Umständen erfolgreich zu bestehen, hiess es in den Schlussbemerkungen des Berichts, «sind recht gut». Voraussetzung dafür sei der starke Produktionsplatz und ein möglichst europa-freundlich ausgestaltetes Recht. «Der Bundesrat ist sich bewusst, dass es sich die Schweiz nicht länger leisten kann, in jenen wenigen Fällen, da die EG ein Interesse an der Ausgestaltung unserer Vorschriften hat, deren Wünsche aus innenpolitischen Sachzwängen beiseite zu schieben.»

 

«Schliesslich geschieht jeden Tag etwas Wichtiges.»
Ungenannter Sprecher von Aussenminister René Felber, 10. November 1989

Die Mauer fiel, die Sowjetunion fiel, Europa erhielt ein neues Gesicht, und der Aussenminister schwieg. Das durch den «Tages-Anzeiger» überlieferte Zitat ist Ausdruck der Ohnmacht, die seit dem Ende des Kalten Kriegs die Beziehungen zwischen der Schweiz und Europa kennzeichnet. Plötzlich war man nicht mehr im Zentrum von Europa – die Schweiz war eine Aussenseiterin geworden. Als 20 Jahre nach dem Mauerfall die offizielle Schweiz nicht zu den Feierlichkeiten in Berlin eingeladen wurde, schrieb der «Tages-Anzeiger»: «Die Schweiz hat nach dem Fall der Mauer ihre Nische in Europa verloren.»

 

«Nein!»
Christoph Blocher, EWR-Abstimmung 1992

Mit grosser Lust und Kraft hat ein Mann am heutigen Status der Schweiz in Europa mitgearbeitet. Christoph Blocher und mit ihm die SVP wurden als politische Kräfte mit der Abstimmung über den EWR erstmals richtig wahrgenommen. Allein gegen alle brachte Blocher den Beitritt zum Scheitern. Das war nicht nur der Beginn des Aufstiegs der nationalkonservativen SVP, die Abstimmung war auch Auftakt einer nicht enden wollenden Abwehrschlacht von selbsternannten «echten Schweizern» gegen alles aus Europa. Das Gefühl von damals hat sich heute noch verstärkt. Die Bevölkerung ist so europakritisch wie wohl noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg.

 

«Der bilaterale Weg ist der Königsweg.»
Bundesrat Johann Schneider-Ammann, Mai 2011, «NZZ am Sonntag»

Es ist das Mantra des bürgerlichen Establishments, die satzgewordene Verteidigung gegen jegliche Druckversuche aus Brüssel. Und Druck, den gibt es. «Ohne Einigung in institutionellen Fragen gibt es keine neuen Verträge mehr», sagte EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso Ende März in selten gehörter Härte. Das Bild der Schweiz in Europa ist ein schlechtes. Die Anrufung der Ventilklausel aus innenpolitischen Motiven, der unschöne Steuerstreit mit Deutschland, der Kampf um die Personenfreizügigkeit: Immer offener wird die Schweiz als Land der Rosinenpicker bezeichnet, immer lauter werden all jene europäischen Stimmen, die ein Ende der Schweizer Sonderbehandlung fordern. Die Antwort der Schweizer Politik: Schweigen.

 

«Fertig gewurstelt. Die Schweiz muss der EU beitreten.»
SP-Nationalrat Cédric Wermuth im «Sonntag» vom 31. März 2012 

Eine echte Europadebatte, die unser Verhältnis zur EU in diesen schwierigen Zeiten ausleuchtet und definiert, die steht in der Schweiz noch an. Solange die Krise in Europa noch andauert, solange auch der Druck der europäischen Institutionen nicht nachlässt und die europäischen Staaten selber noch unter grossem Druck sind – so lange wird in der Schweiz allerdings keine vernünftige Debatte möglich sein. Reden wir nicht drüber. Möge es schnell vorbei sein und uns nicht weiter belasten. Oder, um es in den Worten von Johannes Baumann zu sagen: «Der Kampf der politischen Systeme in anderen Ländern berührt unsern Staat nicht.»

Quellen

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 04.05.12

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