Abgeschoben ins Ungewisse

Eigentlich ist das Bundesamt für Migration verpflichtet, die Situation in einem Aufnahmeland wie Italien zu prüfen. Das geschieht aber nur sporadisch. Dabei sind die Verhältnisse häufig miserabel.

Flüchtlinge geraten in Italien häufig in Obdachlosigkeit, Flüchtlingszentren sind oft überlaufen. Hier ein obdachloser Asylsuchender in Süditalien. (Bild: Reuters)

Eigentlich ist das Bundesamt für Migration verpflichtet, die Situation in einem Aufnahmeland wie Italien zu prüfen. Das geschieht aber nur sporadisch. Dabei sind die Verhältnisse häufig miserabel.

Der Fall einer afghanischen Familie wirbelt die europäische Flüchtlingspolitik durcheinander. Am Mittwoch kam das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu einer siebenköpfigen Familie, die die Schweiz nach Italien abschieben wollte.

Das Urteil sorgte für viel mediales Echo: Die SVP bemühte einmal mehr das Klischee der «fremden Richter», Bundesrätin Simonetta Sommaruga spricht von «Schutzlücken im Dublin-System» und Hilfswerke jubeln, endlich werden die Defizite der europäischen Asylpolitik wahrgenommen.

Der Gerichtshof wirft der Schweiz vor, die Behörden hätten nicht genügend abgeklärt, wie die Situation in Italien aussieht. Das bemängeln Hilfswerke seit Längerem. David Cornut von Amnesty Schweiz sagt, es genüge nicht, nur festzustellen, welches Land für den Asylsuchenden zuständig sei. «Das Bundesamt für Migration muss auch die Situation vor Ort prüfen, was nicht zureichend gemacht wurde», meint Cornut.

BfM gibt keine klare Antwort

Was Cornut anspricht, ist kein Goodwill, sondern es steht so im Gesetz: Die Dublin-Verordnung, die die Schweiz unterzeichnete, fordert die «Prüfung der Rechts- und Sachlage in dem Mitgliedstaat», in den eine Abschiebung erfolgt. Das heisst: Im Falle der afghanischen Familie hätte das Bundesamt für Migration (BfM) abklären müssen, ob Italien in der Lage sei, alle menschenrechtlichen Standards einzuhalten – das wurde nur unzureichend gemacht.

Die standardisierte Prüfung läuft grundsätzlich wie folgt: Das BfM stellt einen Antrag um Aufnahmeersuchen an Italien. Das Aufnahmeland hat dann zwei Monate Zeit, darauf zu reagieren. Nach dieser Frist gibt es kein Zurück mehr: Der Flüchtling wird überstellt.

Gibt es Bemühungen des BfM, die Situation in Italien eingehend zu prüfen? BfM-Sprecher Martin Reichlin windet sich aus dieser Frage heraus: «Zwischen den italienischen und den schweizerischen Behörden findet auf verschiedenen Ebenen ein Austausch statt», sagt er, ohne konkret zu werden.

Schauerliche Verhältnisse in Italien

Zu einem eindeutigen Befund gelangt die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), die regelmässig Berichte über die Situation von italienischen Flüchtlingszentren erstellt. Der letzte Bericht ist aus dem Jahr 2013, darin heisst es: zu wenig Plätze in Asylzentren, häufig droht den Flüchtlingen die Obdachlosigkeit. Für Kinder gibt es «keine adäquate Unterbringungen». 

Thomas Segessenmann vom Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Schweiz (Heks) meint, diesen Berichten hätten die Schweizer Behörden zu wenig Beachtung geschenkt. Und der Gerichtshof für Menscherechte gibt Segessenmann recht.

Der Fall der afghanischen Flüchtlingsfamilie lässt sich aus dem Urteil rekonstruieren: Mutter, Vater und fünf Kinder flüchten über Pakistan, den Iran und landen an der kalabrischen Küste in Italien. Dort werden sie gesetzeskonform von den italienischen Behörden registriert und in einem Flüchtlingszentrum in Bari untergebracht.

Die Eltern berichten später von schauerlichen Verhältnissen: Unzureichende sanitäre Einrichtungen, keine Privatsphäre, Gewalt unter den Bewohnern des Flüchtlingszentrums.

Leidensgeschichte hört keiner

Die Familie verlässt Bari ohne Erlaubnis und taucht ab. In Österreich wird sie von der Polizei aufgegriffen und erneut in ein Flüchtlingsheim gesteckt. Auch diesen Ort verlassen die Geflohenen illegal und flüchten weiter in die Schweiz. Bis zu diesem Zeitpunkt hat noch keine Behörde ihre Geschichte angehört – ein Asylverfahren läuft noch nicht.

Auch die Schweizer Behörden interessieren sich nicht für die Leidensgeschichte der Familie, sondern nur für eines: Wo hat sich die Familie als Erstes registrieren lassen? Nach einer Prüfung der Fingerabrücke ist das schnell geklärt: Italien.

Das ist eine gute Nachricht für die Behörde, es bedeutet weniger Aufwand, weniger Kosten. Aber es ist eine schlechte Nachricht für die Geflohenen. Jetzt müssen sie zurück in dieses Land, in dem sie beinahe so schlecht leben wie in dem Land, aus dem sie kommen: Afghanistan.

Italien muss eine Garantie geben

Mit einem Anwalt schreibt der Vater und die Mutter eine Beschwerde an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), sie wollten auf keinen Fall zurück in die prekären Zustände in Italien.

Zwei Jahre später ist die Familie noch in der Schweiz, das Bundesamt für Migration (BfM) hat die Abschiebung sistiert, bis ein Urteil des EGMR vorliegt. Und der Gerichtshof in Strassburg gibt der Familie recht.

Im Urteil vom 4. November heisst es, die Rückführung nach Italien wäre eine Verletzung der Menschenrechtskonvention. Die Familie wäre «unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung» unterworfen. Die Schweiz dürfe in solchen Fällen nur abschieben, wenn Italien eine Garantie dafür gebe, dass die Menschenrechtsstandards eingehalten wären.

Das Gericht entschied in erster Linie so, weil Kinder involviert waren. Diese würden bei einer Abschiebung von den Eltern getrennt und könnten vermutlich keine Schule besuchen.

In Deutschland wehren sich die Richter

Was sind die Folgen dieses Urteils? Martin Reichlin vom BfM geht davon aus, «die Überstellung von Asylsuchenden nach Italien bleibt grundsätzlich möglich». Es werde sich zeigen, welche Auswirkungen das Urteil auf Fälle hat, wenn Kinder involviert sind.

Vertreter von Hilfsorganisationen schreiben dem Urteil mehr Bedeutung zu. David Cornut von Amnesty International denkt, das Urteil könnte dazu führen, dass die Situation der Asylsuchenden vor der Ausschaffung allgemein genauer untersucht wird.

Das Urteil wird auch in Deutschland rege diskutiert. Dort ist der Streit um die Abschiebungen nach Italien seit Längerem ein heisses Thema. Bereits vor zwei Jahren wehrten sich deutsche Richter gegen die Abschiebepraxis – die Verhältnisse in Italien seien miserabel.

Nach Griechenland wird seit zwei Jahren gar nicht mehr abgeschoben, weil das Land keine ordentlichen Asylverfahren durchführen kann.

Griechenland spielt für die Schweiz keine grosse Rolle, weil die meisten Flüchtlinge nicht über Griechenland einreisen. Italien ist jedoch sehr relevant. Kein anderes Land schiebt so viele Asylsuchende nach Italien zurück, wie die Schweiz. Im Jahr 2013 waren es 2500 Rückführungen. Zum Vergleich: Deutschland schob in diesem Zeitrahmen nur gerade 400 Personen nach Italien ab.

Das ist in erster Linie der geografischen Lage der Schweiz geschuldet. Es unterstreicht jedoch die Wichtigkeit der Abschiebungen für die Schweiz. Wenn nicht mehr nach Italien abgeschoben wird, würde das mehr Aufwand für die Schweiz bedeuten – Flüchtlinge sind für die Behörden im Endeffekt ein lästiges Gut, das nur Kosten verursacht.

Die Schweiz profitiert also von dem System – «es gibt aus Schweizer Sicht keine Alternative dazu», sagt BfM-Sprecher Martin Reichlin.

Dublin-System umkrempeln

Die Kritik am Dublin-System ist ein alter Hut: Jeder Flüchtling darf nur in einem europäischen Land einen Asylantrag stellen, wenn er dies zuerst in Italien tut, kann ihn ein anderes Dublin-Land nach Italien zurückschaffen. So wollte es die Schweiz im Falle der afghanischen Familie handhaben.

Mit dem Urteil zur afghanischen Familie erreicht die Dublin-Kritik eine neue Dimension. Für den Chef des BfM, Mario Gattiker, wäre der Austritt aus dem Dublin-System der «Worst Case», wie er gegenüber dem «Tages-Anzeiger» sagt.

Derweil liebäugeln europäische Regierungschefs mit einem neuen Quotensystem, das Flüchtlinge auf europäische Länder verteilen soll. Ausgangspunkt ist die drastisch steigende Zahl der Asylsuchenden in Deutschland.

Ein Quotensystem könnte lanciert werden, wenn die einflussreichsten EU-Staaten, wie Deutschland und Frankreich, davon profitieren würden – ergo durch ein Quotensystem weniger Flüchtlinge aufnehmen müssten. Für die Schweiz wäre das eine Entlastung: Nur Schweden nimmt mehr Flüchtlinge pro Kopf auf.

Was die europäische Politik entscheidet, betrifft die Familie aus Afghanistan zurzeit nicht mehr. Das Urteil des EGMR heisst für sie: bis auf Weiteres in der Schweiz bleiben und nicht ins Ungewisse abgeschoben werden.

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