Die Revolution am Nil hat einen Etappensieg errungen. Der gewählte Präsident steht über der Armee. Ein juristisches Nachspiel von Moris Machtübernahme ist wahrscheinlich.
Bis in die frühen Morgenstunden des Montag wurde auf dem Tahrir-Platz in Kairo und in vielen ägyptischen Städten gefeiert. Die Anhänger der Muslimbrüder waren zwar in der Mehrzahl, aber es waren auch viele Junge auf der Strasse, die die Revolution im vergangen Jahr angeführt hatten. Sie freuten sich vor allem über den abrupten Abgang von Feldmarschall Hussein Tantawi, dem verhasste Symbol des alten Regimes. «Das Militärregime ist gefallen» oder «Die Revolution hat ihren Willen durchgesetzt», skandierten sie; aber sie hatten auch gleich neue Forderungen.
Die Jugendbewegung des 6. April verlangte etwa, dass nun alle von der Armee Verhafteten freigelassen werden und dass es keine Straffreiheit für die abgesetzten Generäle geben darf. Am Sonntag hatte der ägyptische Präsident Mohammed Morsi die Armeespitze und den Verteidigungsminister ausgewechselt.
Viel Beifall für den Vizepräsidenten
In einer Rede an der al-Azhar Universität betonte Morsi am späten Sonntagabend, seine Entscheide seien weder gegen eine Person noch gegen eine Institution gerichtet gewesen, sondern einzig zum Wohl der Menschen und des Landes getroffen worden. Die Reaktionen auf seinen «Gegenputsch» waren überwiegend positiv. «Heute hat die wirkliche Machtübergabe stattgefunden», twitterte der ehemalige Präsidentschaftskandidat Abdel Moneim Aboul Fotouh. «Ein Schritt, um die Legitimität des Staates zu festigen», befand der Schriftsteller Alaa al-Aswani. Viel Beifall erhielt auch die Nominierung des unabhängigen Richters Mahmoud Mekki zum Vizepräsidenten. Er hatte sich schon zu Mubaraks Zeiten einen Namen als kompromissloser Verfechter von Rechtsstaatlichkeit gemacht.
Dass das umfassende Revirement in der Armee, das auch mehrere Truppenkommandanten und den Chef der Suez-Kanal-Behörde umfasste, mit den Generälen abgestimmt war, hat inzwischen ein Mitglied des obersten Militärrates (Scaf) bestätigt. Auch der neue Verteidigungsminister Abdel Fatah al-Sisi ist wieder ein General und nicht ein Zivilist. Die nächste Kraftprobe mit dem Militär steht schon in wenigen Wochen bevor, wenn in der neuen Verfassung die Rolle der Armee und ihre Befugnisse festgeschrieben werden.
Opposition muss Gegengewicht schaffen
Mit seinem Doppelschlag – der Auswechslung der Militärspitze und der Annullierung der Verfassungszusätze, die seine Befugnisse einschränken – hat Morsi seine eigene Macht zementiert und ist seinen Gegnern zuvorgekommen, die für den 24. August zum «Sturz des Präsidenten und der Muslimbrüder» aufgerufen hatten. Zu ihnen zählen verschiedene Gruppierungen von Anhängern des alten Regimes und Opponenten der Islamisten, darunter auch gewaltbereite Schläger. Die Muslimbrüder haben im Vorfeld des 24. August Polizeischutz für ihre Büros beantragt, nachdem es in den letzten Wochen zu ersten gewalttätigen Übergriffen auf ihre Einrichtungen gekommen ist. Eine Gruppe, die sich «liberale Rebellen Ägyptens» nennt, hat bereits erklärt, sie akzeptiere Morsis Beschlüsse nicht.
Daneben gibt es auch besonnene Stimmen aus dem liberalen und säkularen Lager, die sich fragen, ob Morsi und die Muslimbrüder nun zu viel Macht anhäufen könnten. Der linke ehemalige Präsidentschaftskandidat Hamdin Sabahi hat Morsi deshalb aufgefordert, sich des Einflusses der Muslimbrüder genauso zu entledigen wie er es mit den Generälen gemacht habe und der Präsident des Volkes und nicht einer Gruppe zu sein.
Juristen streiten
Ein Sprecher der Jugendrevolution richtete einen Aufruf an die Oppositionskräfte aus dem nationalen und dem Revolutionslager, sich endlich zusammen zu schliessen und ein politisches Gegengewicht zu den Muslimbrüdern zu schaffen. Andere merkten an, dass Morsi ohnehin nur so viel Macht habe, bis wieder ein gewähltes Parlament im Amt ist. Mit der exekutiven und der legislativen Macht in einer Hand sei die Transformation immer noch ein Chaos, lautete das Fazit von Mohammed al-Baradei.
Noch streiten sich die Juristen, ob der Präsident überhaupt die Befugnis hatte, die Verfassungszusätze der Generäle zu annullieren. Da sie in seinem Amtseid vor dem Verfassungsgericht namentlich enthalten waren, hätte sich Morsi verpflichtet, diese Bestimmungen zu achten, erklärte Tahani al-Gabali, selbst Verfassungsrichterin; eine Interpretation mit der sie nicht alleine steht. Nach dem juristischen Klein-Klein der letzten Monate ist deshalb anzunehmen, dass Morsis Entscheid trotz grosser Zustimmung noch ein gerichtliches Nachspiel haben wird.