Die Europäer wählen ihr Parlament neu. In vielen Ländern sind diese Wahlen von geringer Bedeutung. Dabei entscheidet das Plebiszit auch darüber, ob die europäische Einigung weiter voranschreitet oder ob ein Rückzug in die Nationalstaaten ansteht.
Die anstehenden Wahlen ins Europäische Parlament unterscheiden sich in einem zentralen Punkt von nationalen Wahlen. Sie haben die Eigenheit, dass die Grundeinstellung zur Institution eine höhere Rolle spielt: Ist man für oder gegen Europa beziehungsweise die EU? Andere Wahlen laufen nicht nach dem Fragemuster, ob es zum Beispiel die nationalen Einheiten Niederlande, Österreich oder die kommunalen Einheiten New York oder Paris als Einheiten geben soll oder nicht.
Dazu kommen weitere signifikante Unterschiede: Oft wird bloss die zweite Politgarnitur in den Wahlkampf geschickt. Das ist ein beinahe geschlossener Kreislauf: Weil als unwichtig erachtet, wird unwichtiges Personal aufgeboten, das die vermeintliche Unwichtigkeit der Institution scheinbar bestätigt. Die Wahlen werden zudem lediglich als Testläufe für ein Kräftemessen der nationalen Parteien verstanden. In Frankreich steht die Frage im Vordergrund, ob der aufstrebende Front National oder die schwächelnden Sozialisten zur stärksten Kraft des Landes werden. In Deutschland nutzt die CSU die Wahlen für eine Kraftprobe mit der Schwesterpartei CDU.
Erfreulich ist, dass das Nationale durch das Politische relativiert wird und ein Kandidat, zum Beispiel der Deutsche Martin Schulz, von seinen Landsleuten nicht automatisch für den wünschenswerten Kommissionspräsidenten gehalten wird, bloss weil er die gleiche Staatsbürgerschaft hat.
Stimmen und Stimmungen
Bis 1979 wurden die Mitglieder der Europäischen Versammlung nur indirekt über die nationalen Parlamente bestückt (wie heute noch der Europarat). Die 1979 erstmals durchgeführten Direktwahlen gelten als grosse Errungenschaft. Der bis 1969 machtvoll regierende General de Gaulle hatte sich stets dagegen gewehrt und gesagt: Dieses Parlament ist für Direktwahlen zu unbedeutend, und weil es zu unbedeutend ist, soll es auch nicht durch Direktwahlen aufgewertet werden.
Die Stimmbeteiligung liegt bei Europawahlen relativ niedrig: Vor fünf Jahren, 2009, lag sie bei 43 Prozent. Dieser Wert liegt unter der durchschnittlichen Wahlbeteiligung in der Schweiz. In den Nationalratswahlen von 1999 war sie zwar gleich hoch, inzwischen ist sie wieder auf leicht über 48 Prozent angestiegen. Viel tiefer kann die Beteiligung bei schweizerischen Urnengängen sein, zum Beispiel mit 35,4 Prozent in der Volksabstimmung von 1997 zur Initiative EU-Beitrittsverhandlungen vors Volk.
Doch bereits im Punkt der Stimmbeteiligung kann man – einmal mehr – erkennen, dass es Einheitseuropa nicht gibt. In Abwandlung des schweizerischen Wortes «L’Europe n’existe pas», es gibt bloss «les Europes». In den Varianten der politischen Mobilsierbarkeit von 2009 ausgedrückt: Deutschland lag mit 43,3 Prozent gerade im Durchschnitt. Unter den damals 27 Mitgliedstaaten gehörten zu den fünf vorbildlichsten Belgien mit 90 Prozent, Malta mit 79 Prozent, Italien mit 65 Prozent, Dänemark mit 60 Prozent, Irland und Zypern mit 59 Prozent Stimmbeteiligung. Zu den vier Letztplatzierten gehörten: Tschechien, Slowenien und Rumänien mit 28 Prozent, Polen mit 24 Prozent, Lettland mit 21 Prozent, die Slowakei mit 20 Prozent. Warum dies jeweils so war und sein wird, müsste Fall für Fall abgeklärt werden. Die hohe Beteiligung in Belgien beruht auf einer Mischung von Stimmzwang und Tradition.
Mehr Macht, die weniger legitimiert ist
Vielfalt herrscht im Elektorat von 400 Millionen Menschen auch bezüglich Wahlalter, Wahlsystem, Wahltag. Wer gewöhnt ist, immer am Sonntag zur Urne gerufen zu werden, wie zum Beispiel in Deutschland, mag nicht plötzlich an einem Mittwoch antreten – und vice versa. Darum erleben wir bei diesen Wahltagen die Spannweite des 22. bis zum 25. Mai. Damit aber die früheren Ergebnisse nicht die späteren beeinflussen, werden alle zusammen bekanntgegeben.
Was den Durchschnitt der Wahlbeteiligung betrifft, gibt es jedoch einen klaren Trend: 62 Prozent (1979), 59 Prozent (1984), 58,4 Prozent (1989), 56,7 Prozent (1994), 49,5 Prozent (1999), 45,5 Prozent (2004), und eben 43 Prozent (2009). Dieser rückläufige Trend ist widersinnig. Denn auf der Ebene der Kompetenzausstattung läuft er in entgegengesetzter Richtung: Die Mitwirkungsmöglichkeiten des Parlaments haben seit dem neuen Vertrag von Lissabon von 2009 stark zugenommen.
Es gibt den Trend, lieber die Bedürfnisse von unten nach oben als die Einsichten ins Notwendige von oben nach unten weiterzugeben.
Die gewachsene Bedeutung des Parlaments wird in den Mitgliedländern wenig wahrgenommen, weil die Parlamentsmitglieder ihre Vermittlungsfunktion schwach wahrnehmen. Dabei wäre es ihre Aufgabe, zumal sie sehr gut bezahlte Vollzeitparlamentarier sind, die Europapolitik in der Provinz zu «verkaufen», das heisst verständlich zu machen, wie das auch mit der nationalen Politik innerhalb der Nationalstaaten geschieht oder geschehen sollte. Aber es gibt auch da den generellen Trend, lieber die Bedürfnisse von unten nach oben als die Einsichten in gewisse Notwendigkeiten von oben nach unten weiterzugeben.
Wenn etwas zu wünschen übrig lässt, werden allzu oft «die da oben» dafür verantwortlich gemacht, in diesem Fall Brüssel. Es gibt jedoch auch eine Holschuld an der Basis, die darin besteht, sich mit den übergeordneten Fragen zu beschäftigen und seine politischen Mitsprachemöglichkeiten (um die in anderen Gegenden der Welt Menschen ihr Leben hergeben) zu nutzen.
Premiere: gesamteuropäische Spitzenkandidaten
Die «da oben» führen nicht einfach ein unnützes und lustiges Leben. In der Regel wird ernsthaft und mit einigem Ethos gearbeitet. Das Leben in Brüssel und Strassburg kann auch sehr mühsam und entbehrlich sein. Das in 24 Amtssprachen parlierende Parlament ist ein wichtiger Ort des informellen Austauschs und der persönlichen Begegnung – und leistet einen wichtigen Beitrag zur Kohäsion der Union.
Geht es um die «Wurst»? Die Zuständigkeit des Europäischen Parlaments hat in jüngerer Zeit, wie gesagt, stark zugenommen. Das gilt mit Ausnahme der Aussen- und Sicherheitspolitik für alle Politikfelder, von der Landwirtschaft über Gesundheit, Energie und Migration bis zu den strukturellen Ausgleichszahlungen. Das EU-Budget bedarf ebenfalls der parlamentarischen Verabschiedung.
Neuerding wird auch der Kommissionspräsident vom Parlament gewählt, auch wenn die Wahl vom Vorschlag der 28 Staats- und Regierungschefs abhängt. Von ihnen wird erwartet, dass sie den durch die Wahlen entstandenen Fraktionsstärken Rechnung tragen. Darum haben die Fraktionen, was eine Premiere ist, erstmals gesamteuropäische Spitzenkandidaten aufgestellt. Diese dürfen und müssen sich nun Fernsehduelle liefern. Ein Erstes fand am 28. April in Maastricht statt, ein anderes hat im Abendprogramm des 8. Mai auf deutschen Kanälen zwischen Martin Schulz (Deutschland/Sozialdemokraten) und Jean-Claude Juncker (Luxemburg/Volksdemokraten) als den stärksten Favoriten stattgefunden. Damit wächst auch, was bisher spürbar gefehlt hat: eine von den Medien wirklich mitgetragene europäische Öffentlichkeit – bis hin zur Kommentierung in der TagesWoche.
Spot auf radikale Aussenpositionen
In diesem Duell hörte und sah man viele Gemeinsamkeiten: So sind alle ganz entschieden gegen Jugendarbeitslosigkeit. Aber es gibt doch auch einschneidende Unterschiede, zum Beispiel in der Frage der Steuerharmonisierung und in der Regulierung der Finanz- und Bankenwelt.
Wie sich die programmatischen Bekenntnisse der Wahllokomotiven Schulz/Juncker und Co. auf die Unterstützung in den einzelnen Mitgliedstaaten auswirken, muss sich erst noch zeigen. Die kombinierte «Regierung» der EU (Kommission und Rat) wird aber eine permanente Grosse Koalition der grossen Parteikräfte sein. Das ist ihre Schwäche und ihre Stärke zugleich.
Die Parteienanteile verschieben sich in den Kombinationen von Zeit zu Zeit zwischen den Grosskräften. Abwechselnd haben die Rechten oder die Linken die Nase vorne. Dazwischen spielen die Liberalen das Zünglein an der Waage. Damit sind bereits über 70 Prozent des aktuell 766 Sitze umfassenden Parlaments beisammen. Die Aufmerksamkeit gilt momentan aber vor allem den radikaleren Aussenpositionen der erstarkenden Rechten mit den bekannten Führerfiguren Nigel Farage (Grossbritannien), Marine Le Pen (Frankreich), Geert Wilders (Niederlande), Viktor Orban (Ungarn) bis zu Timo Soini (Wahre Finnen).
Diese Nationalisten bilden, was vorläufig überhaupt nicht widersprüchlich ist, eine sich gegenseitig beflügelnde Internationale. Ein Horrorszenario wäre, wenn Europa einmal in ihre Hände fiele. Schlimm genug, dass im nationalen Rahmen bei den sogenannten Mitteparteien die Bereitschaft wächst, diesen Kräften entgegenzukommen.
Ausbau oder Rückbau
Die Geschichte des Europäischen Parlaments zeigt, dass die Entwicklung der EG/EU nicht stehen geblieben ist und dieser Prozess weiterlaufen kann. Noch muss das Parlament die gesetzgeberische Zuständigkeit mit der Kommission und vor allem mit dem Ministerrat teilen. Das könnte so bleiben, muss aber nicht. Es wäre durchaus möglich, dass diese eigenartige Architektur (sui generis) gelegentlich doch dem klassischen Staatsmodell angepasst und die Kommission eine richtige Exekutive und der Ministerrat so etwas wie eine Hohe Kammer (ein Senat oder Ständerat) würde. Doch dazu braucht es schon jetzt ein dynamisches und durch hohe Wahlbeteiligung legitimiertes Parlament. Weniger wünschten sich dagegen viele, was allgemein vorausgesagt wird: die Stärkung der äusseren Rechten, die nur mitmacht, weil sie den erreichten Entwicklungsstand zurückbauen will.
Die Schweizerinnen und Schweizer werden von ihrem helvetischen Balkon aus diese Wahlen mit einer mittleren Aufmerksamkeit verfolgen. Die freundlich Gestimmten werden froh sein, wenn das Bild über den Zustand Europas nicht allzu schlecht ausfällt. Und die unfreundlich Gestimmten werden in den Negativsignalen, wie der niedrigen Stimmbeteiligung und der EU-internen Kritik an der EU, willkommene Bestätigungen ihrer negativen Einstellung sehen. Ob in der einen oder anderen Richtung müsste ein leises Bedauern darüber mitschwingen, dass man da nicht mit(be)stimmen kann. Denn die weitere Entwicklung der EU wirkt sich in allerhöchstem Mass auch auf die wenigen europäischen Staaten aus, die ihr formell nicht angehören.