Über drei Monate lag das ostukrainische Slowjansk im Kreuzfeuer von Armee und Separatisten. Anfang Juli flohen die prorussischen Milizen nach Donezk, doch noch immer leben die Bürger von Slowjansk im Chaos.
Auf den ersten Blick scheint alles in Ordnung in Slowjansk. Russische Popmusik schallt über den Leninplatz, Rentner und Mütter sitzen auf Parkbänken, in den Kuppeln der orthodoxen Kirche spiegelt sich die Mittagssonne. Doch die Ruhe trügt. Zwei Monate lag Slowjansk im Kreuzfeuer von Armee und Separatisten. Anfang Juli eroberte das Militär die Stadt zurück, die Rebellen flohen nach Donezk. Doch der Bürgerkrieg hinterliess seine Spuren in der Stadt mit 117’000 Einwohnern: Es gibt noch immer weder Wasser noch Strom, in einigen Strassen liegen Minen, Bürger berichten von Massengräbern.
Neben dem Rathaus am Leninplatz wartet Alexej Michailow auf frisches Wasser. Der 68-Jährige wohnt nahe dem Stadtzentrum. Vor seiner Haustür, erzählt er, hatten Separatisten eine Strassensperre aus Beton und Sandsäcken gebaut. Die Armee nahm den Posten unter Beschuss. «Granaten explodierten vor meinem Haus und die Scheiben zersplitterten», erzählt der Rentner. Die Nachbarn seien geflüchtet, er habe in seiner Zweiraumwohnung mit einem Kofferradio ausgeharrt und sich von Konserven ernährt. «Wohin hätte ich auch gehen sollen?», fragt er.
Wasser holen im Kugelhagel
Ähnliches berichtet die 51 Jahre alte Nastja Petrenko. Zwei Monate lebte sie mit ihrer Mutter im Keller, fast jeden Tag hörte sie die Salven der Maschinengewehre. «Irgendwann konnten wir unterscheiden, welches Kaliber die Gewehre hatten», erzählt Petrenko. Ende Juni sei es besonders schlimm gewesen. «Da wurde von allen Seiten geschossen.» Trotz der Gefahr gingen Leute auf die Strasse, um Wasser zu holen, Brot zu kaufen oder Geld aufs Handy zu laden. «Man wusste nicht, ob man wieder zurückkommen würde», berichtet die Frau.
Die meisten Häuser blieben von den Kämpfen verschont, an einigen Wohnblocks sind jedoch Einschusslöcher zu sehen. Nastja Petrenko deutet auf eine ausgebrannte Ruine. Separatisten hätten das zweigeschossige Haus besetzt gehalten, weil sich unter dem Bau ein Brunnen befinde, erzählt sie. Die Armee nahm das Gebäude unter Beschuss. Bei dem Bombenangriff starben nicht nur Rebellen, sondern auch ein fünfjähriges Mädchen. «Vorsicht Minen», warnt heute eine Schrift auf der zerbröckelten Fassade. In den Trümmern könnten Sprengsätze liegen, die beim Einschlag nicht detoniert sind.
Wie viele Stadtbewohner unterstützte auch Nastja Petrenko zunächst die Separatisten: «Ich dachte, es würde uns dann wirtschaftlich besser gehen.»
Anfang April tauchen die ersten Separatisten in Slowjansk auf. Sie besetzen die Polizeiwache und Rathaus und riegeln Zufahrtsstrassen ab. In der Aussenstelle des Geheimdienstes hält der selbsternannte Bürgermeister Wjatscheslaw Ponomarjow OSZE-Beobachter und Journalisten gefangen. Nastja Petrenko unterstützt zunächst die Milizen – wie viele andere Bürger auch. Bei dem von den Rebellen organisierten Referendum stimmt sie für die Volksrepublik Donezk und die Unabhängigkeit der Ostukraine. «Ich dachte, es würde uns dann wirtschaftlich besser gehen», sagt Petrenko.
Tretminen rund ums Massengrab
Der Alptraum beginnt, als im Mai Armee und Nationalgarde anrücken, die Stadt belagern und Granaten in Wohnhäuser einschlagen. Tausende fliehen aus dem Kessel, auch Nastja Petrenko schickt rechtzeitig ihre Tochter und ihren Sohn zu Verwandten nach Odessa. Während der Belagerung hätten die Separatisten ihr wahres Gesicht gezeigt, erzählt Petrenko. «Sie plünderten Geschäfte und stahlen Autos.» Der Kommandant der Milizen, Igor Girkin, wollte daraufhin für mehr Disziplin sorgen. Der Russe mit dem Spitznamen «Schütze» habe fünf Marodeure erschiessen lassen, berichtet die ukrainische Presse.
Im Juni beobachtet Petrenko nach eigenen Angaben, wie mehrere Männer ein Massengrab hinter dem Kinderkrankenhaus in der Uridskastrasse ausheben. «Die Kühlung im Leichenschauhaus funktionierte nicht mehr, weil es keinen Strom gab», sagt Petrenko. In dem Grab sollen die Separatisten rund 20 Leichen verscharrt haben. Die Armee warnt die Einwohner davor, sich dem Massengrab zu nähern. In den Gebüschen sollen Tretminen und Sprengsätze mit Drahtauslöser versteckt sein.
Trinkwasser im Tanklaster
Anfang Juli verlassen die Separatisten plötzlich Slowjansk und die Armee rückt ein. Dennoch bleibt die Industriestadt weiter abgeriegelt. Nördlich von Slowjansk, im Ort Dowhenke, hat die Armee ihre Hauptbasis aufgeschlagen. Über tausend Soldaten warten dort auf ihren Einsatz, Panzerfahrzeuge und Truppentransporter rollen im Minutentakt über die Staubpiste in die Separatistengebiete. Auf der Schnellstrasse, die Charkiw mit Slowjansk verbindet, stehen Militärposten. Soldaten stoppen Autos, kontrollieren Pässe und durchsuchen Kofferräume. So will die Armee verhindern, dass erneut Separatisten in die Stadt einsickern.
Auf den Leninplatz in Slowjansk rollen Tanklaster ein, endlich wird neues Trinkwasser geliefert. Nastja Petrenko und der Rentner Alexej Michailow stellen sich in die Schlange zu den anderen Männern, Frauen und Kindern. Über Lautsprecher wird eine Durchsage verkündet: Wer sich duschen will, sagt die Stimme, soll um 13 Uhr ins Rathaus kommen.