Im Zusammenhang mit der aktuellen Schuldenkrise fordert Griechenland von Deutschland Wiedergutmachung für das erlittene Leid im Zweiten Weltkrieg. Doch das Begleichen der offenen Rechnung ist kompliziert.
Zu Beginn dieses Monats verlieh der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck einer alten Frage neue Aufmerksamkeit, gab ihr vielleicht sogar eine Wende. Er erklärte: «Wir sind ja nicht nur die, die wir heute sind, sondern auch die Nachfahren derer, die im Zweiten Weltkrieg eine Spur der Verwüstung in Europa gelegt haben – unter anderem in Griechenland, worüber wir beschämend lange wenig wussten.»
Wie man weiss, ist die griechische Forderung nach einer Entschädigung für Ausstände aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs auch im Zusammenhang mit den aus der aktuellen Schuldenkrise fälligen Zahlungen wieder erhoben worden. Das macht die ohnehin schwierige Sache noch schwieriger. Die beiden Dinge, die alte Schuld der einen und die neuen Schulden der anderen, sollten nicht miteinander verquickt werden.
Einigung auf Pauschalabgeltung – ohne Griechenland
Gerechterweise muss aber daran erinnert werden, dass Griechenland immer wieder und lange vor der aktuellen Zuspitzung wegen der neuen Schulden Deutschland an die alte Schuld erinnert hat, fassbar 1946, 1953, 1960 und 1995. Und die alte Schuld war (noch vor der Wahl der neuen Regierung) ein Thema, als Gauck im März 2014 Griechenland besuchte und bewusst auch einen der Orte der deutschen Verbrechen der Wehrmacht während der Besatzungszeit aufsuchte.
Die alte Schuld: Sie setzt sich aus verschiedenen Elementen zusammen und ist teilweise abgegolten und teilweise – eben – nicht. Wie beziffert man Wiedergutmachung für Massenerschiessungen von Zivilisten, die Zerstörung zahlreicher Dörfer, Dezimierung der Handelsflotte, wirtschaftlichen Raubbau und anderes mehr? Keine Abgeltung waren jedenfalls die seit den 1980er-Jahren fliessenden Euro-Milliarden an regionalen Fördermitteln, obwohl Deutschland als starker Nettozahler viel dazu beigetragen hat.
1960 einigte man sich auf eine Pauschalabgeltung von 115 Millionen D-Mark (heute 250 Millionen Euro) für die Entschädigung individueller Opfer – und nicht für Staatsreparationen. Gerade damals wollte Griechenland den heute geltend gemachten Ausstand ebenfalls anmahnen – es musste sich aber gefügig zeigen, weil es ein Assoziationsabkommen mit der EG wollte, das es 1961 dann auch tatsächlich erhielt.
Selbst der Rechtsdienst des Deutschen Bundestags hat die Berechtigung der griechischen Forderung anerkannt.
Die Frage nach der Berechtigung der griechischen Forderung wird je nach Denkkultur unterschiedlich beantwortet. Die juristisch zu verstehende Denkweise macht zwei Punkte stark: Deutschland habe gemäss dem im September 1990 abgeschlossenen Zwei-plus-Vier-Vertrag (BRD und DDR plus die Alliierten) keine weitere Wiedergutmachung mehr zu leisten. Griechenland war da nicht dabei, indessen hat es im November 1990 mit der Zustimmung zur KSZE-Charta diesen Vertrag indirekt anerkannt, allerdings ohne explizit auf seine alte Forderung zu verzichten. Selbst der Rechtsdienst des Deutschen Bundestags hat in einem Gutachten die Berechtigung der griechischen Forderung anerkannt.
Die historische Art, über die Sache nachzudenken, fragt eher, wie es zu den heutigen Gegebenheiten gekommen ist. Sie setzt beim Londoner Schuldenabkommen von 1953 ein. Da wollten die beiden angelsächsischen Westmächte in der Konstellation des Kalten Krieges den Partner Westdeutschland schonen, andererseits aber doch nicht die Länder brüskieren, die unter der NS-Besatzung gelitten hatten. Darum lautete die clevere Lösung, dass die Entschädigungsfrage erst nach Abschluss eines Friedensvertrags geregelt werde.
Von diesem Abschluss wissen wir, dass seine Autoren damit rechneten, dass er – wie die Wiedervereinigung Deutschlands – nie eintreten werde. Dafür gibt es neben der gängigen Bezeichnung des Sankt-Nimmerleins-Tags sinnigerweise die Formel «ad calendas graecas», nämlich eine römische Datumsangabe, die im Griechischen nicht vorkommt, also nicht existiert. Wurde von griechischer Seite der Ausstand vor 1990 angesprochen, lautete die Antwort, dies sei zu früh, weil noch kein Friedensvertrag vorliege. Und nach 1990 bekam sie zur Antwort, dass es jetzt zu spät sei.
Sammelmodell im Stil von Crowdfunding
Obwohl Entschädigungen für noch lebende Opfer und deren direkte Nachkommen besonders berechtigt erscheinen, sei im Folgenden vor allem von der im März 1942 der griechischen Nationalbank abgerungenen Zwangsanleihe die Rede, weil hier der Anspruch besonders evident und die nachträgliche Entschädigungsverweigerung besonders stossend ist. Es ging um monatliche Zahlungen für die Besatzungskosten oder den Bau von Befestigungsanlagen auf Kreta mit einem Total von 476 Millionen Reichsmark, vom NS-Regime ausdrücklich als Schulden anerkannt. Diese ordinäre Schuld steht ausserhalb der allgemeinen Reparationen und hat heute einen Wert von gegen 10 Milliarden Dollar.
Wenn die deutsche Regierung, die sich ja verständlicherweise an bestimmte Rechtsauslegungen gebunden fühlt, der Meinung ist, diese Spezialschuld nicht begleichen zu können, sollten andere Wege gefunden werden, den Ausstand zu begleichen. In der Diskussion um mögliche Lösungen ist auf die Stiftung «Erinnerung, Verantwortung, Zukunft» hingewiesen worden, die im Jahr 2000 für die Entschädigungen von Zwangsarbeitern aus Osteuropa geschaffen und hälftig von der Bundesregierung und der Wirtschaft mit je 10 Milliarden D-Mark ausgestattet wurde. Gaucks kürzlich ausgesendetes Signal ging denn auch in diese Richtung.
Aber so etwas entsteht nicht von alleine, es ist oder wäre die Folge einer Kombination von Druck und Willen. Wir in der Schweiz können sagen, dass wir wissen, wie das geht. 1997/1998 sind wir zu einer ähnlichen Einsicht gekommen mit der Errichtung des Holocaustfonds und dem Bankenvergleich mit der Volcker-Kommission. Man fand Wege, erwartete und fällige Zahlungen zu leisten. Damit war die Schweiz nach langem Versäumnis mit seiner Vergangenheit diesbezüglich ins Reine gekommen.
«Die Nachfahren müssen nicht Schuld abtragen, sondern ‹bloss› Verantwortung wahrnehmen.»
In einem wichtigen Punkt besteht allerdings ein wesentlicher Unterschied: Griechenland hat bei Weitem nicht die gleiche Marktbedeutung in den USA. Es gibt nicht den gleichen ökonomischen Anreiz für ein Eingehen auf die Erwartungen der Gegenseite. Also muss man sich von den Schlüsselbegriffen der erwähnten Stiftung leiten lassen: mithin das Erinnern und die Verantwortung ernst nehmen und damit eine bessere Zukunft ermöglichen. Auf diese Weise tut man etwas für Griechenland, für die griechisch-deutschen Beziehungen und auch für sich selbst, für Deutschland – und letztlich für Europa.
Denkbar wäre ein Sammelmodell im Stil des Crowdfunding, an dem sich die von Gauck angesprochenen «Nachfahren derer, die im Zweiten Weltkrieg eine Spur der Verwüstung in Europa gelegt haben», beteiligen können, unter Umständen mit der Aussicht, dass die Regierung den so zustande gekommenen Betrag verdoppeln würde. Diese Nachfahren müssen, wie im angesprochenen Fall der Schweiz, nicht Schuld abtragen, sondern «bloss» Verantwortung wahrnehmen.
Geld ist im doppelten, im realen wie im symbolischen Sinn die Währung für das Wahrnehmen von Verantwortung. Gauck hat auch darauf hingewiesen, dass man sich «beschämend lange» wenig bewusst war, was die Vorgängergeneration in Griechenland angerichtet hat. Das gilt insbesondere auch für die Zehntausenden von Deutschen, die in Griechenland im Sommerurlaub waren und mit Udo Jürgens das Lied vom «Griechischen Wein» (1974) angestimmt hatten, ohne je eine Sekunde einen Gedanken an die begangenen Gräueltaten der NS-Jahre aufgebracht zu haben.
Es gibt die Metapher, dass die Geschichte ein Buch sei, in dem man nicht stets auf der gleichen Seite hängen bleiben und diese auch einmal umblättern soll. Wohl wahr. Daneben gibt es aber die ebenfalls sehr berechtigte Forderung, dass man vor dem Umblättern die Seite vollständig durchgelesen haben soll. Während in Deutschland die meisten wohl weitergeblättert haben, hat Griechenland verständlicherweise – und sogar zu Recht – noch ein älteres Blatt vor sich. Deutschland sollte sich so verhalten, dass auch die Griechen diese Vergangenheit als einigermassen abgeschlossen betrachten können.
Es ist gesagt worden, dass das Präsentieren einer alten Rechnung aus der Zeit des Kriegs gegen den europäischen Geist verstosse, weil doch die Aussöhnung unter den früheren Kriegsgegnern das Fundament der neuen Gemeinschaft bilde. Sollte man den europäischen Geist nicht gerade andersherum zur Geltung bringen, indem man alte Rechnungen endlich begleicht?