An Olympia will die ­Bündner Elite genesen

Auch wenn die öffentlichen Kassen des Kantons Graubünden und der Bündner Gemeinden leer sind, so setzt sich die Mehrheit der Behörden doch für die Olympischen Spiele 2022 ein. Die Elite des Kantons erhofft sich einen wirtschaftlichen Aufschwung.

Die Capuns-Connection ist eine Art südostalpiner Daig. (Bild: Nils Fisch)

Auch wenn die öffentlichen Kassen des Kantons Graubünden und der Bündner Gemeinden leer sind, so setzt sich die Mehrheit der Behörden doch für die Olympischen Spiele 2022 ein. Die Elite des Kantons erhofft sich einen wirtschaftlichen Aufschwung.

Als der Schweizer Eis­hockey-Star Richard «Bibi» Torriani am 30.  Januar 1948 den olympischen Eid leistet, ist St. Moritz Pleite und steht unter Kuratel des Kantons Graubünden. 70 000 Franken hat die Gemeinde zusammengekratzt als Beitrag an die Spiele, sie sind das Äusserste, was sie sich abverlangen konnte.

Und die Spiele zünden nicht etwa den grossen Boom, wie er von Promotoren heute versprochen wird. Die Gemeinde muss noch fünf weitere Jahre – bis 1953 – unter dem Diktat aus Chur leben. Da aber ist das Jahrzehnt des Aufbruchs schon im Gange, der Wohlstand, der Fortschritt, die Annehmlichkeiten stellen sich ohnehin ein.

Mit Olympia hat das nichts zu tun. Der Erfolg, der – «top of the World» – diesem einzigartigen St. Moritz dann zukommt, ist das Ergebnis einer gros­sen Summe an sorgfältig gepflegten Details und von sehr, sehr viel Arbeit, von sehr viel Wissen. Der Erfolg ist nicht Resultat einer «grossen Kiste». «Einfach einkaufen», wie das die ­Macher und Konzeptverkäufer gerne hätten, lässt sich der Erfolg nicht. Das wissen die Bündnerinnen und Bündner sehr genau. Darum haben sie weitere Olympiakandidaturen abgelehnt, sagten Nein zu lärmigen Hauptsponsoren wie Coca-Cola und McDonald’s, die das Diktat übernehmen und den wahren Luxus Graubündens – die Stille – fressen.

Viel öffentliches Geld

Nun wollen es die Grosskopfeten Graubündens aber nochmals wissen. In zehn Jahren sollen in St. Moritz und Davos die Olympischen Winterspiele ausgetragen werden. Von dem vielen öffentlichen Geld, das in einen solchen Anlass gepumpt wird, würde für sie zweifellos einiges abfallen. Darum ist es allein schon aus ethnologischem Interesse wichtig, an einer Weihestunde teilzunehmen, an der die Promotoren sich einschwören auf ein gemeinsames Unterfangen, von dem sie sich den grossen Reibach versprechen. So geschehen Ende November 2012.

Eine Art von südostalpinem «Daig», die Capuns-Connection Graubündens, gab sich die Ehre. Alle waren sie zusammengekommen im Churer Auditorium der Kantonalbank, dem «Raum für wegweisende Gedanken und unvergessliche Anlässe»: Die Verbände der Gewerbler und der Arbeit­geber, die Handelskämmerer, die Hoteliers, das Amt für Wirtschaft und Tourismus, die Bänkler und das befreundete Medien-Unternehmen «Südostschweiz».

Dieser graue Bund, der sich als kantonale Elite versteht und sein eigenes Heftli namens «Puls» herausgibt, ist entschlossen, ganz auf Olympia zu setzen. Denn es muss etwas geschehen in Graubünden. Der Atem der Tourismuswirtschaft geht seit Jahren flacher und flacher. Die bei St. Galler Betriebswirtschäftlern teuer eingekauften Rezepte helfen nichts, Rat­losigkeit hat sich breitgemacht.

Ein gewisses Feuer

Der Wintersport befindet sich im Niedergang, Graubündens Zukunft wäre der Ganzjahres-Gast. Doch der wurde vernachlässigt. Es ist also weniger der noble olympische Gedanke, der in den Vordenkern und Machern ein gewisses Feuer entfacht hat. Es ist einfach die Aussicht auf rasche Gewinne – im Wintersport. Über der Veranstaltung in Chur prangte das sportiv verbrämte Motto: «Olympische Winterspiele 2022 – ein Steilpass für Graubünden.»

Der Ernst der Lage lässt sich am Ehrengast ablesen; es kam Bundesrat Ueli Maurer, als Sportminister gleichsam das olympische Sturmgeschütz. «Lasst uns gemeinsam etwas Grosses tun!» Applaus. Er hatte die Aufgabe, der Capuns-Connection persönlich ins offene Mikrofon zu versprechen, der Bundesrat zahle eine Milliarde Franken an Olympia. Eine Beige aus Tausendernoten von 70 Metern Höhe. Da die Schweiz zurzeit unter Druck des Auslands stehe und sich auf alle Seiten hin verteidigen müsse, komme Olympia wie gerufen: «Wir müssen der Welt unsere Bescheidenheit zeigen, unsern Fleiss, die Sicherheit, die Stabilität, die Sauberkeit, die humanitäre Tradition, die Fähigkeit, aus wenig viel zu machen – wir müssen die Schweiz mit diesen Werten präsentieren!» Das wiederholte Maurer fünf Mal, damit es alle im Saal begreifen konnten.

Der Fallwind ist der zweitälteste Bündner, der ­älteste ist der Neid.

Ärgerlich nur, dass wenige Tage später schon wieder ganz und gar unbescheidene Schweizer Bankdaten nach Deutschland gelangt sind, weil die Zähmung der Raubaffen vom Paradeplatz weiterhin unterlassen wird. Der Druck muss also noch zunehmen. Alois Vinzenz, Generaldirektor der braven Bündner Kantonalbank und in dieser Funktion Gastgeber im Auditorium, rankte ein bisschen hin und her auf seinem Stuhl unter Maurers Kaskade helvetischer Sekundärtugenden. Ob Vinzenz wohl an den Parmalat-Skandal dachte? An die 21 Millionen Franken, die er als Vergleichszahlung an den Nahrungsmittelkonzern in Italien hatte überweisen müssen? Oder dachte er an seinen Mitarbeiter, der sich vor der Zeugenaussage in der Parmalat-Affäre das Leben genommen hatte?

Auf den VIP-Stühlen in der vordersten Reihe sass lächelnd Graubündens Pech-Marie, Regierungsrat Hansjörg Trachsel. Was er berührt, wird nicht zu Gold. Aber er ist einer der eifrigsten Olympia-Fans. Und ein Mann mit Nehmerqualitäten: Drei Tage vor dieser Weihestunde in Chur hatte ihm das Stimmvolk einen ordentlichen Nasenstüber verpasst – es verweigerte sich einer neuen Organisation der Tourismusabgaben entschieden. Obwohl die Capuns-Connection geschlossen dafür die Trommel gerührt hatte, blieb das Bündner Stimmvolk unbeeindruckt. Im Gegenteil, im wuchtigen Nein ist Bergler-Trotz auszumachen. Die Stehkrägeler scheinen den Kontakt zur schlichten Bürgerschaft verloren zu haben. Hansjörg Trachsel wirkte aber keineswegs geknickt, zumal er seinen Rücktritt im Falle einer Niederlage vorab schon ausgeschlossen hatte. Er ist ja ein Meister der negativen Beschleunigung – an den Bob-Weltmeisterschaften 1977 hockte er im Schweizer Silberschlitten, als Bremser.

In den Sand gesetzte Sägerei

Hat Trachsel bei der Behauptung des Bundesrates, die Schweizer ver­stünden aus wenig viel zu machen, an jene grosse Leere gedacht, die er als Wirtschaftsminister in Domat/Ems hinter­lassen hat? Dachte er an die ­«international wettbewerbsfähige» Grosssägerei, die mit seiner massgeblichen Unterstützung in die grüne Rheintaler Natur implantiert worden war? An die Zerstörung der gewachsenen Sägerei-Strukturen durch die «grosse Kiste»?

Dachte er daran, wie ihn der St. Galler Handelshochschul-Professor Thomas Bieger gelobt hatte: «Ein Musterbeispiel für optimale Zusammenarbeit» zwischen Staat und Wirtschaft? Dachte Trachsel an die Einweihung der Sägerei, als er erheitert die Worte des Emser Dorfmagistraten beklatscht hatte: «Es mussten ein paar Bäume gefällt werden in den Köpfen derjenigen, die vor lauter Vorurteilen nicht mehr in der Lage gewesen sind, die Vor- und Nachteile des Projekts abzuwägen»?

Dort, wo die Sägerei dann tatsächlich ein paar wenige Jahre lang sägte, gähnt jetzt eine zubetonierte Ebene, grösser als ein Dutzend Zürcher Sechseläuteplätze. Magistrat Hansjörg Trachsel musste nicht abtreten, auch nicht nachdem klar war, dass er 23 Millionen Franken an Steuergeldern in der Sägerei verbrannt hatte.

Im Heidiland gibt es keine Rücktrittskultur, und die Capuns-Connection bewahrte sich die Pech-Marie im Amt. Das macht Trachsel Mumm auf noch grössere Brocken, jetzt auf Olympia. In der einzigartigen Weite des Sägerei-Areals liesse sich die Eröffnungsfeier der Winterspiele bequem inszenieren. Im Hintergrund bildstark die dampfende, rauchende Ems-Chemie als Zeichen schweizerischen Arbeitseifers.

Was Hansjörg Trachsel berührt, wird nicht zu Gold.

Zu dumm nur, dass der Grossraum Chur nicht aufscheint als Olympiastätte. Doch noch gibt es eine Krume Hoffnung für die Hauptstadt. Der designierte Stadtpräsident von Chur, Urs Marti, träumt jedenfalls davon, in Chur entstehe das Olympia-Pressezentrum. Denn die 10 000 Medienleute hätten ohnehin keine Bleibe in Davos und St. Moritz. Darum müssten sie ins Pressezentrum nach Chur, und dieser Bau könnte dann später so richtig nachhaltig als Dreifach-Turnhalle genutzt werden. Eine Hoffnung, die anscheinend von der esoterischen «Kraft der Ringe» genährt wird.

Doch welcher Sportjournalist will seine Arbeit ausgerechnet in Chur verrichten, wenn es in Chur eben gerade nix geben soll mit «schneller, weiter, höher»? Marti, der sich als ra­tional kalkulierender Unternehmertyp verkauft hat im Wahlkampf, begründet seine Imagination mit einer verblüffenden Neuigkeit: «Chur ist eines der innovativsten Zentren der Medienwelt.» Das verrät Kenntnisse, über die bisher gar niemand verfügt hat. Wer angewiesen ist auf Erzeugnisse des Churer Medienmonopolisten «Südostschweiz», wähnte sich bisher schon eher in einer journalistischen Sahel-Zone.

Klamme Kasse

Dürre auch in den öffentlichen ­Kassen: Das bürgerliche Parlament der Hauptstadt Chur (36 000 Ein­wohner) hat die Gewinnsteuer für Unter­nehmen gesenkt. Jetzt fehlen Chur 20 Millionen Franken. Nochmals 8   Millionen entziehen die gros­sen Immobilienbesitzer der Stadt; sie hatten ihre Häuser bisher als Ver­mögen ausgewiesen. Nach der Gewinnsteuersenkung brachten sie ihren Besitz elegant und ganz legal in Aktiengesellschaften unter und versteuern die jetzt als juristische Personen günstiger. Macht insgesamt minus 28 Millionen.

Die Stadtregierung hat in ihrer Not begonnen, die von den Strassen geräumten Schneehaufen liegen zu lassen. Im vergangenen Winter ist ein 20-Jähriger in einem solchen Schnee­haufen von einem Räumfahrzeug erdrückt worden. Die Sparerei geht ans Lebendige, und eine solche Hauptstadt scheint nicht fit und froh genug, um die Welt willkommen zu heissen.

Die Stadt Davos wiederum lebt unter einem Schuldenberg von 120 Millionen Franken. Und der Kanton gibt sein Geld lieber für Strassen aus als für Kultur und Bildung, gesellschaftspolitisch liegt er hinter sieben Bergen, und die besten Köpfe halten es da meist kein Leben lang aus.

Der Föhn, der in Graubünden allen vertraute Fallwind, ist der zweitälteste Bündner. Der älteste aber, das ist der Neid. Er ist gern zuhause in der Abgeschiedenheit, jener Konstante bündnerischer Talschaften. Schwarzen Spinnen gleich kriecht er aus den Ritzen, wenn es andern anders geht, er vergiftet das Blut, tanzt Reigen mit der Schadenfreude, hilft Wasser abgraben und lässt des Nachbarn Kühe serbeln. Und vor dem Gang zur Urne füllt er die Stimmzettel aus.

Zeitlich scheint das Jahr 2022 weit entfernt. Doch auf die Frage, ob in zehn Jahren Olympische Winterspiele in Graubünden stattfinden, fällt bereits in zwei Monaten eine Vorentscheidung: Am 3. März kommt es zum einzigen Plebiszit in dieser Sache. Falls die Bünderinnen und Bündner Nein sagen, bleiben sie sich treu. Schon 1988 lehnten drei von vier Stimmberechtigten Olympia ab.

Der legendäre Mann des Tourismus in Graubünden, der ehemalige St. Moritzer Kurdirektor Hanspeter Danuser, eloquenter Causeur, weltoffen und unermüdlich, meint: «Ich werde am 3. März Ja stimmen. Aber ich habe keine Lust, wieder zur Minderheit zu gehören.» Das sei aber mit Sicherheit der Fall, wenn der Olympiaplan nicht überdacht werde. «Ein derartiger Mega-Event in zwei so kleinen Orten – eine solche Kandidatur ist doch völliger Blödsinn.»

Auf der offiziellen Kandidatur – und das ist Futter für den ältesten Bündner – würde nicht etwa geschrieben stehen: «Olympische Winterspiele 2022 Schweiz.» Das sähe Bundesrat Maurer gern. Oder «Olympische Winterspiele 2022 Graubünden», wie es im Sprachgebrauch der Capuns-Connection heute tönt. Es wird dann nur heissen: «Olympische Winterspiele 2022 St. Moritz».

Ein deutliches Nein

Die Satzungen des Internationalen Olympischen Komitees verlangen die Nennung eines einzigen Ortes. Wenn nur schon das in Graubünden zu allgemeiner Kenntnis gelangt, lässt sich auf ein deutliches Nein am 3. März 2013 ohne Risiko wetten.

Doch deswegen werden in Graubünden die Lichter nicht ausgehen. Hinter dem Nein wartet die grosse Chance: Der Kanton mit den denkbar schönsten Landstrichen wird sich als Ferienraum neu erfinden. Dazu gehört zwingend eine solide Grundschulung in Gastfreundschaft und Aufmerksamkeit. Geld für diese unumgängliche Ausbildung liegt ja bei Regierungsrat Trachsel schon bereit, die 300 Bündner Olympia-Millionen. Das ist ein Drittel des Vermögens von Graubünden.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 04.01.13

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