Nach dem Kriegsausbruch in ihrer Heimat wurden ukrainische Flüchtlinge in Russland mit offenen Armen empfangen. Doch mittlerweile ist die Euphorie verflogen. Eine Begegnung mit einer Familie aus Luhansk.
Moskau. Es riecht nach frischen Blumen, bunte Luftballons gleissen im Neonlicht. Wartende stehen in kleinen Gruppen zusammen, kichern und lachen. An der Wand hängen überlebensgrosse Bilder von zerknautschten Babys. Ein Fotograf im weissen Arztkittel macht Bilder von Jungfamilien, die mit ihrem Nachwuchs um die Wette strahlen. Bei jedem Namen, der aufgerufen wird, nestelt Anatoli Sawtschenko nervös am Papier der eingepackten Blumen. Und atmet enttäuscht aus, wenn sein Name nicht dabei ist.
Es ist der Warteraum des Geburtshauses Nummer 20 im Osten von Moskau. Grigori, der siebenjährige Sohn von Anatoli, fläzt sich schon ungeduldig auf der Sitzbank, und die kleine Angelina bestaunt mit grossen Augen die vielen Menschen, die sich glücklich in den Armen liegen. Endlich fällt der Name: «Sawtschenko!» Anatoli reisst das Papier von den roten Rosen, als schon seine Frau Swetalana aus der Flügeltür tritt, mit einem Neugeborenen auf dem Arm, eingepackt in einen dicken Daunenstrampler.
Nicht alle Tage waren so glücklich wie heute, als Anatoli seine Frau und seinen neu geborenen Sohn aus dem Krankenhaus abholt. Die Familie ist im vergangenen Sommer aus der ostukrainischen Stadt Luhansk geflohen. Nie wird Anatoli vergessen, wie seine vierjährige Tochter damals zu ihm sagte: «Papa, ich schlafe heute in der Strassenkleidung, damit wir schnell weglaufen können, wenn der Luftalarm losgeht!» Zehn Tage nach den ersten Bombardements in Luhansk standen die Sawtschenkos mit gepackten Koffern an der Grenze zu Russland.
Zunächst lief für Familie Sawtschenko alles nach Plan: Innerhalb weniger Tage wurde ihr der Flüchtlingsstatus zuerkannt.
Doch es gab noch einen weiteren Grund zur Eile. Erst wenige Wochen zuvor wurde bei der jüngsten, erst neun Monate alten Tochter Blutkrebs diagnostiziert. Das Krankenhaus, in dem die Tochter behandelt wurde, entging nur knapp einem Bombenangriff, auch die Ärzte flohen in Scharen aus der Stadt. «Komm doch nach Moskau», hatte ihm sein Cousin damals am Telefon gesagt. Anatoli überlegte nicht lange. Eine bessere medizinische Versorgung ist in Moskau sicher, dachte er. Und sowieso erschien eine Flucht nach Moskau auch politisch opportun: Hatte er doch im Referendum für die Unabhängigkeit der «Luhansker Volksrepublik» gestimmt, um sich von Kiew loszusagen. Mit einem Wort: Alles sprach für Moskau.
Wie die Familie Sawtschenko, so haben Hunderttausende anderer Ukrainer seit dem Ausbruch des Krieges ihre Heimat Richtung Russland verlassen. Bis zum September 2015 sollen 1,1 Millionen ukrainische Staatsbürger aus dem Donbass nach Russland geflohen sein, so offizielle russische Angaben. Beobachter gehen indes von rund 500’000 ukrainischen Flüchtlingen aus. Laut der russischen Migrationsbehörde haben derzeit knapp 312’000 Ukrainer einen temporären Flüchtlingsstatus erhalten. Der Status gilt jedoch immer nur vorübergehend und muss jedes Jahr verlängert werden. So lange er gültig ist, haben die Betroffenen zumindest ein Recht auf medizinische Versorgung – und auf Arbeit.
So lief zunächst auch für die Familie Sawtschenko alles nach Plan: Innerhalb weniger Tage wurde ihr der Flüchtlingsstatus zuerkannt. Die Tochter wurde in einer Moskauer Klinik behandelt, und Anatoli ging auf Arbeitssuche.
In Luhansk war Anatoli Sawtschneko ein gemachter Mann. Seit der Flucht schlägt er sich mit Gelegenheitsjobs durch.
Bald folgte die Ernüchterung: «Wenn ich mich auf Stellenausschreibungen bewerbe, sagen sie immer, dass sie nur russische Staatsbürger nehmen wollen», sagt Anatoli. Er klettert auf ein klappriges Stahlgerüst, im Hintergrund hebt sich eine hübsche Holzkirche mit grünem Dach vom Moskauer Plattenbauten-Grau ab. Anatoli trägt einen Kapuzenpulli, Jeans und Bauarbeiterhandschuhe. An einer weiss-getünchten Fassade bohrt er Bretter in die Wand.
In Luhansk war er ein gemachter Mann, stellvertretender Direktor einer Baufirma. Mit der Flucht musste Anatoli aber von vorn anfangen – und schlägt sich seither mit Gelegenheitsjobs durch. Gerade baut er an einem neuen Kirchenareal. Den Pfarrer lernte er bei einem seiner vielen Kirchengänge kennen. «Der Glaube hilft durch schwere Zeiten», sagt Anatoli.
Dumpinglöhne auf der Baustelle
Auf den Moskauer Baustellen hätten die Flüchtlinge aus dem Donbass die Zentralasiaten schon längst mit Dumpingpreisen unterboten, seufzt er. Keine Chance, einen Job zu kriegen, der monatlich mehr bringt als 35’000 Rubel, rund 500 Euro. Und Moskau ist teuer: Allein die Wohnung, immerhin noch eine zweistündige Fahrt mit der Metro und dem Vorortzug entfernt, kostet umgerechnet 420 Euro. Im Sommer war Anatoli zwei Monate lang arbeitslos. Mit der Miete ist er gerade wieder zehn Tage im Rückstand.
Nur wenige Wochen nachdem die Sawtschenkos in Russland ankamen, verschärfte sich die Situation für Flüchtlinge. Seit Juli 2014 nehmen Städte wie Moskau und St. Petersburg keine Schutzsuchenden aus der Ukraine mehr auf. Ein klares Zeichen dafür, dass der Staat schnell das Interesse an den Flüchtlingen verloren hätte, kritisiert Swetlana Gannuschkina von der Flüchtlingsorganisation «Bürgerhilfe»: «Sie haben ihre propagandistische Rolle erfüllt, damit war die Sache für den Staat erledigt.» Dauerhafte Sozialleistungen bestehen für sie in Russland nicht, von einigen Hilfsprojekten in den russischen Regionen abgesehen. Aus den Augen, aus dem Sinn – wie so oft bei Flüchtlingskrisen, sagt Gannuschkina.
Freiwillig in die Pampa
So gibt es auch für die Familie Sawtschenko keine finanzielle Unterstützung, wie etwa Muttergeld für das neu geborene Kind. Die Sawtschenkos wollen dennoch nicht auf andere Regionen des Landes ausweichen, wo es zumindest Chancen auf Hilfsangebote gibt – und einen erleichterten Zugang zur russischen Staatsbürgerschaft. Der wird ermöglicht, wenn man freiwillig in die tiefste Provinz zieht.
Das Bleiben der Familie hat einen Grund. Trotz der Chemotherapie kam für ihre kleine krebskranke Tochter im letzten Jahr jede Hilfe zu spät. Einen Monat nach der Flucht erlag das erst zehn Monate alte Mädchen ihrem Krebsleiden. «Wir können und wollen nicht aus Moskau weg, weil hier unsere Tochter begraben ist», sagt Anatoli.
Ob er enttäuscht sei? Ob er sich vom Kreml, dem Verbündeten der «Luhansker Volksrepublik», nicht mehr erwartet hätte? «Wir haben natürlich gedacht, dass wir uns von der Ukraine abspalten und dann mit Russland vereinigen werden», sagt Anatoli. «Aber niemand dachte im Traum daran, dass es so weit kommt und Blut vergossen wird.» Trotzdem schüttelt Anatoli den Kopf. «Ich bin so dankbar für die Hilfe. Für die Behandlung unseres Kindes haben sie in der Klinik nicht eine Kopeke verlangt – verstehen Sie?» Und es sei ja nicht so, dass die Menschen ihnen gegenüber völlig gleichgültig wären. Seinem Sohn Grigori, der jetzt in die erste Klasse geht, hat die Stadtverwaltung zuletzt neue Winterkleidung und Schulsachen geschenkt.
Bürokratische Odyssee
Derweil hat Anatoli noch eine grosse Hoffnung: die russische Staatsbürgerschaft. Damit hätte die Familie zumindest Anspruch auf Muttergeld. Doch obwohl Anatoli ethnischer Russe ist, gilt der Prozess als bürokratische Odyssee. Und Anatoli hat derzeit weder die Zeit, um die Behördenwege selbst zu machen, noch das Geld, um einen Dienstleister dafür zu engagieren.
Mit seinem neugeborenen Sohn möchte er allerdings einen Anfang machen. Zumindest symbolisch. So hat Anatoli ihn Daniil genannt – nach Daniel, dem Heiligen von Moskau.