Auch in der Demokratie gilt: Keine halben Sachen

Begriffe sind politisch nicht unschuldig. Was uns viel bedeutet, müssen wir auch richtig bezeichnen können. Sonst stehen wir unseren Anliegen plötzlich selber im Weg, und ebenso wichtigen Einsichten und Veränderungen.

Haben Sie schon mal eine «halbschwangere» Frau getroffen? Was soll dann das Gerede von der «halbdirekten» Demokratie?

(Bild: Nils Fisch)

Begriffe sind politisch nicht unschuldig. Was uns viel bedeutet, müssen wir auch richtig bezeichnen können. Sonst stehen wir unseren Anliegen plötzlich selber im Weg, und ebenso wichtigen Einsichten und Veränderungen.

Wenn die öffentliche Diskussion gleichsam die Seele der direkten Demokratie ist, wird deutlich, welche riesige Bedeutung der Sprache zukommt:

Zum einen in Bezug auf die individuelle Ausdrucksfähigkeit: Wer sich, seinen Problemen und seiner Sicht der Dinge nicht Ausdruck verleihen kann, kann weder gehört werden noch sich je verstanden fühlen. Wer nicht lesen und zuhören kann, kann sich auch nicht verständigen. Und wer ebenso wenig hören wie gehört werden kann, kann sich weder mit noch zu anderen finden. Er bleibt allein. Doch wer allein bleibt, ist politisch ohnmächtig. Er kann politisch bloss verzweifeln. Denn seine politische Macht kann er nur mit anderen zusammen entfalten.

Zum anderen in Bezug auf die Wahl der Begriffe und der Ausdrucksweise: Begriffe erschliessen uns Wirklichkeiten, ordnen diese, bilden sie ab, eröffnen Perspektiven und Handlungsoptionen. Begriffe sind freilich kulturell besetzt, unter Umständen historisch gar belastet. Sie transportieren vergangene Kontexte, Weltsichten, Wertungen, Zusammenhänge. Solche, die nicht allen immer bewusst sind. Begriffe, die andere bewusst einsetzen, wenn sie eine bestimmte Wirkung oder Veränderung erzielen möchten. Solche Begriffe sind eigentliche Codes. Für Botschaften, die nicht immer einfach zu erschliessen, beziehungsweise zu decodieren sind. Sie können Altes mit Gegenwärtigem mischen, um ganz bestimmte Vorstellungen von der Zukunft zu eröffnen, während sie andere Möglichkeiten verbarrikadieren.

Der «Demos» – das Volk – war fast immer heterogen

So macht es einen Unterschied, ob wir von «Asylbewerbern» reden, wenn wir Flüchtlinge meinen, oder eben von «Asylanten», die dem Wort nach den Querulanten und anderen Vaganten nahestehen. Es macht auch einen Unterschied, ob wir in der Schweiz vom «Volk» sprechen, wenn wir die Bürgerinnen und Bürger der Schweiz meinen, und dabei offen lassen, dass zu diesem Volk doch auch jene gehören, die zwar keinen roten Pass haben, von unseren Beschlüssen aber genauso betroffen sind und somit eigentlich auch zum «Demos» einer Demokratie gehören.

Oder wenn wir mit dem Begriff eben nicht zum Ausdruck bringen, dass sich «unser Volk» seit 1848 immer aus ganz verschiedenen Völkern zusammensetzte – eingedenk, dass in der Schweiz ein politisches Volksverständnis herrscht und kein völkisch geburtsständig «homogenes». Darum braucht es auch im Hinblick auf eine neu zu bauende europäische transnationale Demokratie keinen neuen Begriff wie «Demoikratie», worin der griechische Demos mit «Demoi» in der Mehrzahl zum Ausdruck gebracht würde. Denn eigentlich wurde unter dem «Demos» der Demokratie seit jeher nur in Ausnahmefällen ein homogenes Volk mit gleicher Kultur, Sprache und Geschichte bezeichnet.

Und wie steht es um den Begriff «Politik»? Etwa in der Frage, was uns denn «die Politik» bringe im kommenden Jahr? Oder wenn es heisst, diese Sache müsse «von der Politik» entschieden werden? Haben wir dann einfach vergessen, dass hierzulande alle Bürgerinnen und Bürger zu dieser «Politik» gehören? Oder wollen wir bewusst unterschlagen, dass wir anders als anderswo letztlich mitentscheiden, also auch sprachlich angesprochen und nicht einfach ignoriert werden sollten?

In der Politik geht es auch um den Kampf um Begriffe: Nichts Falsches als richtig und nichts Richtiges als zweifelhaft erscheinen zu lassen.

In der Politik geht es folglich auch um den Kampf um Begriffe. Darum, nichts Falsches als richtig und nichts Richtiges als zweifelhaft erscheinen zu lassen. Dies kann durchaus auch subtil und nicht frei von historischen Kontexten geschehen.

So wurde in der Bundesrepublik Deutschland die direkte Demokratie lange als «plebiszitäre Demokratie» bezeichnet und die Volksrechte bedeutungswidrig als «plebiszitäre Elemente» diskreditiert. Denn ein Plebiszit ist nur ein autoritär geprägter Sonderfall unter den Volksentscheiden; nämlich einer, der «von oben» und meist nicht ohne Hintergedanken und Suggestion präsidial angesetzt worden ist (siehe Mosaikstein vom 4. Juli). So hat auch Hitler Plebiszite organisiert, die freilich mit Demokratie wenig gemein hatten. Und die Erfahrungen mit der Manipulierbarkeit der Bürger war ein wesentlicher Grund, weshalb die deutschen Verfassungsgeber 1947/1948 die direkte Demokratie im neuen Grundgesetz marginalisiert hatten.

Begriffsmonster «halbdirekt»

Historisch anschlussfähig, bewusst oder unbewusst diskreditierend, ist auch die in der Schweiz seit etwa 15 Jahren gebräuchlich gewordene Redensart von der «halbdirekten» Demokratie. Ein begriffliches Ungetüm! Oder  haben Sie schon mal eine «halbschwangere» Frau getroffen? Genauso ist auch «halbdirekt» ein Widerspruch in sich selbst, während «plebiszitärdemokratisch» eine unsinnige Verdoppelung des «Volkes» in sich birgt (einmal griechisch, einmal lateinisch), gleichermassen übrigens wie auch die «Volksdemokratien» im Kommunismus. «Halbdirekt» erweckt aber auch die falsche Suggestion, es könnte noch etwas Direkteres geben, und meint damit, dass eine «echte direkte Demokratie» eine reine Versammlungsdemokratie wäre.

Womit wir ganz in der Vormoderne angekommen wären, wo vermeintlich Demokratisches mit dem heutigen Demokratieverständnis nicht sehr viel gemeinsam hat. So gehörten im alten Athen nicht mal zehn Prozent der Bürger zum «Demos». Und öffentliche Versammlungen mögen gut sein für die Diskussion – sofern die Versammelten voneinander wirtschaftlich wirklich unabhängig sind, sich eine eigene andere Meinung also auch leisten, und sich Gehör verschaffen können.

Doch grundrechtlich gibt es in Versammlungen keinen Schutz – weder für die Minderheit noch für die Andersdenkenden. Und der Exekutive sind Bürgerversammlungen immer lieber als Parlamente, da der Informationsvorsprung enorm und die Kontrollmöglichkeiten minim sind. Von «halbdirekt» kann also bewusst nur reden, wer meint, eine direkte Demokratie benötige kein Parlament – was ebenso falsch wäre wie die Vorstellung, die Wahlen ins Parlament seien die einzig legitime Form der demokratischen Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger.

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