Auf dem Hörnli ist Hochsaison

In keinem Monat ist auf Friedhöfen so viel los wie im November: Die Gärtner haben alle Hände voll zu tun und Angehörige besuchen ihre Verstorbenen nicht nur an den Gedenktagen. Ein Besuch auf dem Hörnli, dem grössten Friedhof des Landes.

Im Gegensatz zu anderen Regionen bleibt die Zahl der Erdbestattungen am Hörnli stabil: Immer häufiger sind diese Gräber aber mit Mondsicheln statt mit Kreuzen geschmückt – auf einem Grabfeld, das nur für Muslime bestimmt ist. (Bild: Claude Giger)

Gemeinschaftsgräber verdrängen Einzelgräber und muslimische Ruhestätten liegen quer in der Landschaft. Besuch auf dem grössten Friedhof der Schweiz. Von Martina Rutschmann

Gebeugt steht er da mit einer Spatenschaufel in der Hand. Und sagt auf Italienisch: «E sempre la stessa catena.» Es ist immer derselbe Ablauf. Alfonso Vitale ist einer von 36 Friedhofsgärtnern am Hörnli. Für die Toten der Stadt gräbt er Löcher; achtzig Zentimeter tief, höchstens vierzig Zentimeter breit.

Es sind Löcher für Urnen. Erde, ein Loch, eine Abdankung, eine Urne, wieder Erde. 1900 Menschen werden in Basel jährlich kremiert und so bestattet. Obwohl die Sterblichkeit nicht von Jahreszeiten abhängt, sagt Gärtnerei-Chef Patrick Goepfert: «Der November ist der Friedhofsmonat.»

Es ist der intensivste Monat für seine Mitarbeiter und der wichtigste Monat für Angehörige von Toten. «Jetzt kommen Menschen auf das Hörnli, die sonst nie hier sind», sagt Goepfert. Sie besuchen die Grabstätten ihrer Angehörigen an den verschiedenen Totengedenktagen im November. Und auch aus­serhalb dieser Tage zieht es mehr Menschen auf den Friedhof als in weniger besinnlichen Jahreszeiten.

Um acht Uhr öffnet das Hörnli seine Tore. Noch dürfen die Gärtner laut sein. Mit dem Laubbläser Herbstblätter auf einen Haufen blasen; mit dem Bagger grobe Arbeiten ausführen. Am frühen Morgen ist ausser ihnen kaum jemand hier, die stille Zeit beginnt erst mit den Abdankungen um zehn Uhr.

Bunter Altar beim Massengrab

Mit ihrer grünen Kleidung sind die Gärtner Teil der Anlage, die nebst Friedhof auch Park ist. An Wochenenden verbringen hier Jogger und Spaziergänger ihre Zeit. Das Hörnli umfasst eine Fläche von 75 Fussballfeldern. Ziemlich genau in der Mitte des Areals wird das dominierende Grün durchbrochen: Ein mit Blumen und Herzchen geschmückter Altar bildet den einzigen Farbfleck neben einer brachen Wiese, so scheint es. Doch keine Fläche hier ist so stark bewirtschaftet wie diese – die Wiese ist ein Massengrab.

«Früher wurden in Gemeinschaftsgräbern Menschen begraben, die keine Angehörigen hatten», sagt Patrick Goepfert. Entsprechend lagen keine von Enkelkindern gemalten Bilder vom Grossmami mit ihren Katzen auf dem Altar. Und keine Fotos, welche die Toten zu Lebzeiten unter dem Weihnachtsbaum oder beim Skifahren zeigen.

Was einst die Endstation einer ewigen Einsamkeit bedeutete, wird heute zur salonfähigen Alternative zum Einzelgrab: 800 Menschen werden hier jährlich in Gemeinschaftsgräbern begraben, Tendenz steigend.
Patrick Goepfert führt diese Entwicklung auf die «Friedhofskultur» zurück, die sich mit der Abwendung vieler Menschen von der Kirche ändere. Aber auch auf das Geld: «Häufig entscheiden sich Angehörige aus Kostengründen für ein Gemeinschaftsgrab.»

Es passiere selten, komme aber vor, dass diese Entscheidung bereut werde: Zwei Exhumierungen wurden in letzter Zeit vorgenommen, weil es den Angehörigen doch zu unpersönlich war, ihren Verstorbenen in einem namenlosen Grab zu wissen. Die meisten Familien überlegen sich zuvor aber gut, was sie tun – und vergessen dabei nicht, dass ein Platz im Massengrab gratis ist.

Auch Reihengräber sind kostenlos; jedem Basler steht ein Platz zur Verfügung – der Unterhalt aber kostet: Für Einzelgräber bezahlt man bis zu 300 Franken im Jahr, für Familiengräber mehr. Wer ein Grab selber pflegen will, es aber verwildern lässt, wird gemahnt.

Gerade im November verbringen die Gärtner besonders viel Zeit mit den Reihengräbern. Chrysanthemen und Erika müssen gesetzt werden – und kaum ist die Herbstbepflanzung fertig, gilt es, Gräber für die Adventszeit zu schmücken. Häufig sind es pensionierte Menschen, die sich gegen ein Massengrab und für ein Einzelgrab für ihren verstorbenen Partner entscheiden. Das Geld für die Pflege können oder wollen viele dennoch nicht aufbringen. Sie pflegen die Gräber allein – oft intensiver, als es Gärtnern möglich wäre.

Ein Grabfeld in Richtung Mekka

Robert Wenger ist einer von vielen Männern, die ihre verstorbene Frau jeden Tag besuchen. Auf dem Grab stehen vier frische Blumensträusse. «Ich erzähle ihr, was zu Hause alles passiert. Sie ist immer bei mir, trotz allem.» Ein anderer Mann ruft ihm von einer anderen Reihe aus zu: «Adieu, Herr Wenger, bis morgen.» Auch er kommt täglich, besucht seine Eltern. «Sie würden für mich dasselbe tun.»

Mit dem Trend hin zu Massengräbern und Urnenbestattungen im All-gemeinen nehmen die Erdbestattungen in vielen Regionen ab. Zeitungen kleinerer Kantone berichten jetzt, im Monat der Totengedenktage, wieder vermehrt über den Rückgang der Sargbestattungen. Auf dem Hörnli ist es anders, hier bleibt die Zahl der Erdbestattungen mit 250 jährlich stabil.

Manche Flächen dienen nur der Erdbestattung von Moslems, Frauen und Männer sind getrennt. Die Gräber liegen im Vergleich zu den anderen Grabstätten schief in der Landschaft. Schief, aber in korrekter Richtung, was durch die Messung eines Geometers sichergestellt ist: Die Verstorbenen müssen nach Mekka schauen. Moslems ist es an Beerdigungen erlaubt, sehr nah beim Sarg zu stehen, um die Himmelsrichtung zu garantieren. Bei Christen steht nur der Pfarrer so nah am Grab.

Patrick Goepfert glaubt, dass sein Gärtnerteam schrumpfen wird. Gemeinschaftsgräber geben weniger Arbeit als Reihengräber. Und der Trend in die Richtung scheint sich fortzusetzen. Gewiss bleibt dabei nur eins: Egal, wie und wo ein Toter begraben wird – der Ablauf bleibt derselbe.

Quellen

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 18/11/11

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