Auf dem Weg zum «gescheiterten Staat»

Zwei Jahre nach Gaddhafi steht Libyen erst am Anfang eines politischen Neuaufbaus. Der ursprüngliche Fahrplan ist Makulatur. Die Wahl einer Verfassungskommission wird zum Prüfstein, ob die Politik gegen die Waffen noch eine Chance hat.

Trotz starker Waffenpräsenz ist die Situation in Libyen noch lange nicht unter Kontrolle. (Bild: Reuters)

Zwei Jahre nach Gaddhafi steht Libyen erst am Anfang eines politischen Neuaufbaus. Der ursprüngliche Fahrplan ist Makulatur. Die Wahl einer Verfassungskommission wird zum Prüfstein, ob die Politik gegen die Waffen noch eine Chance hat.

Eine Gruppe Verwundeter aus der Stadt Ajdabiya hat am Dienstagmorgen den Sitzungssaal des libyschen Nationalkongresses in Tripolis gestürmt, Einrichtungsgegenstände zertrümmert und sich mit dem Sicherheitspersonal geprügelt. Die Eindringlinge brachten damit ihren Unmut über die ihrer Meinung nach schlechte Versorgung von Verwundeten aus dem Bürgerkrieg zum Ausdruck; für die die Regierung bereits viele Hundert Millionen Dollar aufgewendet hat.

Zwei Jahre nach der Befreiung von der Gaddhafi-Diktatur, die am Mittwoch offiziell gefeiert wird, ist diese Szene ein treffendes Sittengemälde. Libyen sei nicht ein Staat im normalen Sinn des Wortes, weil die Sicherheit nicht gewährleistet sei, hatte Regierungschef Ali Zidan, der vor zehn Tagen selbst Opfer einer Entführung geworden war, am Wochenende an einer Pressekonferenz erklärt. Eine Definition, die wie eine Vorstufe zu einem «gescheiterten Staat» klingt.

Unzivilisiert oder gesteuert

Unklar ist, ob der handgreifliche Protest «nur» Ausdruck eines unzivilisierten Verhaltens Einzelner war oder ein gesteuerter Versuch, die anstehenden Wahlen für die Verfassungskommission zu vereiteln. Diese Wahlen sind zu einem Prüfstein geworden, ob der Aufbau von politischen Strukturen überhaupt noch möglich ist.

In diesen Wochen ist die Wahlkommission dabei, die Kandidaten und Kandidatinnen zu registrieren und ihre Vergangenheit nach den strengen Kriterien des Isolationsgesetzes zu durchleuchten, das Amtsträger aus den 42 Gaddhafi-Jahren von politischen Funktionen ausschliesst.

Der Andrang ist bescheiden. Für die 60 Sitze, davon sind sechs für Frauen und sechs für ethnische Minderheiten reserviert, gibt es bisher nur 133 Anwärter. Der Chef der Wahlkommission Nuri al-Abbar hat die Frist deshalb nochmals verlängert und an die Bürger und Bürgerinnen appelliert, sich dieser Aufgabe zu stellen.

Datum für Urnengang noch offen

Wann der Urnengang für die je 20 Sitze für die drei historischen Regionen Tripolis, Cyreneica im Osten und Fezzan im Süden dann tatsächlich abgehalten wird, ist immer noch offen. Optimisten hoffen noch in diesem Jahr. Nicht nur die technischen Vorbereitungen müssen abgeschlossen sein, vorallem die Sicherheitslage muss im ganzen Land akzeptabel sein.

Der politische Fahrplan, der nach der Befreiung von der damaligen Übergangsführung aufgestellt wurde, ist längst Makulatur. Machtkämpfe innerhalb des Parlamentes – vor allem zwischen Islamisten und Liberalen – und wenig Erfahrung der Abgeordneten mit dem Gesetzgebungsprozess haben zu endlosen Verzögerungen geführt.

Eigentlich läuft Ende des Jahres das Mandat des Nationalkongresses bereits aus, das heisst, es müsste eine Verfassung ausgearbeitet und vom Volk angenommen, sowie ein endgültiges Parlament und ein Präsident gewählt sein. Nichts von dem ist bisher umgesetzt und die verfassungsgebende Versammlung noch nicht einmal gewählt.

Wie es im neuen Jahr mit dem Übergangsparlament, das im Sommer 2012 gewählt worden ist, weitergehen soll, ist nun Streitpunkt der Juristen und Abgeordneten. Ohne starke demokratische Institutionen ist aber auch die Eindämmung der Gewalt und die Auflösung der bewaffneten Milizen nicht möglich, die immer mehr die Geschicke des Landes bestimmen.

Muslimbrüder wollen Misstrauensvotum

Zudem wird im Parlament über die Zukunft der Regierung von Premier Zidan gestritten. Nach seiner Entführung haben die Muslimbrüder angekündigt, sie würden ein Misstrauensvotum gegen Zidan anstreben. Sie werfen ihm vor, ineffizient zu sein und die Sicherheitslage nicht unter Kontrolle zu haben. Allerdings haben die Islamisten die notwendigen 120 von 200 Parlamentsstimmen bisher noch nicht beisammen.

Zidan hat inzwischen ganz offen erklärt, dass die Entführer aus den Kreisen jener stammten, die seine Absetzung erzwingen wollten. Der Direktor des Büros für Verbrechensbekämpfung machte mit von Stolz geschwellter Brust keinen Hehl daraus, dass er für die Entführung des Regierungschefs verantwortlich sei. Unterstützt wurde er von einer bewaffneten Miliz, eine rivalisierende Miliz hatte Zidan dann befreit. Die Milizen haben vor zwei Jahren noch gemeinsam Ghaddafi gestürzt – jetzt dient jede einem eigenen Herren und einem andern Ziel.

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