Auf unserem Weg nach Europa

Auf dem bilateralen Weg liegt seit dem 9. Februar ein grosser Stein. Dahinter geht es aber weiter Richtung Europa.

Der EU-Wind kann in der Schweiz künftig auch wieder drehen. (Bild: KEYSTONE/Elisabeth Guenthard)

Auf dem bilateralen Weg befand sich die Schweiz lange in einem permanenten Annäherungsprozess an Europa. Diesen hat das Ja zur Masseneinwanderungsinitiative vom 9. Februar abrupt gestoppt. Aber nicht für immer.

Wer mit der EU möglichst wenig zu tun haben will, sagt, die Schweiz müsse sich nicht auf den Weg nach Europa machen, denn sie sei längst dort oder da. Man kann sogar noch weiter gehen und, wie es der deutsche Ex-Aussenminister Joschka Fischer kürzlich wieder getan hat, sagen: Die Schweiz war dank «1848» längst integriertes Europa, bevor dieses hundert Jahre später selbst nach und nach auch ein integriertes Europa wurde. Und sie könne auch weiterhin als «föderales Modell», das heisst mit einer starken Bundesstaatlichkeit, für die EU Vorbild bleiben.

Darum geht es hier aber nicht. Klar ist, dass sich die Schweiz mit dem bilateralen Weg, den man gerne für die schweizerischen Bedürfnisse als den Königsweg bezeichnete, in einem permanenten Annäherungsprozess verstehen konnte: auf die Bilateralen I, die Bilateralen II, die Bilateralen III etc.

Eine Zwischenlösung wird verewigt

Mit dem knappen Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative vom 9. Februar 2014 wurde alles anders. Jetzt erschien dieser Prozess plötzlich gestoppt. Das war ja auch die versteckte Agenda der Initianten. Diesen geht es darum, wie sie sagen, dem «schleichenden» Anschluss ein Ende zu bereiten. Prompt merkte dies ein Teil des scheinbar so reifen Volkes nicht und sagte Ja zu etwas, was es eigentlich nicht wollte, nämlich zur unvermeidbaren Aufhebung mindestens der Bilateralen I.

Und jetzt konzentriert sich unsere ganze Aufmerksamkeit auf die Frage, wie Unmögliches vielleicht doch noch möglich wäre, nämlich zwei unvereinbare Ziele gleichzeitig zu erreichen: Erhaltung der Bilateralen und getreue Umsetzung der Migrationsbegrenzung.

Im kommenden Wahljahr wird man zum Thema Europa Farbe bekennen müssen. Die Farbe wird allerdings nicht blau sein, sondern ein bläuliches Grau.

Prognosen sind gefährlich. Manches deutet jedoch darauf hin, dass die rechtsnationalen Kräfte ihren Kampf gegen die «schleichende EU-Zugehörigkeit» verlieren werden. Ihr momentaner Erfolg wird aber darin bestehen, dass die Bilateralen – die das Volk immerhin ebenfalls angenommen hat – wegen der von ihnen verschleiert inszenierten Infragestellung nun in der Schweiz so sehr verteidigt werden, dass sie verfestigt aus dieser Runde hervorgehen. Damit wird, was zunächst nur als provisorische Zwischenlösung gedacht war, quasi verewigt. Das entspricht ja auch dem helvetischen Grundbedürfnis: dabei und doch nicht dabei sein.

Auch diejenigen, die einen EU-Beitritt für die bessere Lösung halten, werden froh sein, wenn wenigstens die Bilateralen gerettet werden. Sie werden jetzt Zurückhaltung üben und sich mit der bescheideneren Integrationsvariante zufriedengeben. Christoph Blocher wird das als seinen Sieg verbuchen können.

Allerdings: Während bisher das Europathema in den eidgenössischen Wahlen stets umschifft und auf die Zeit danach ausgelagert wurde, wird es im anstehenden Wahljahr schwierig sein, dies wieder so zu halten. Man wird, wenigstens ein klein wenig, Farbe bekennen müssen. Die Farbe wird allerdings nicht blau sein, sondern ein bläuliches Grau.

Macht man die Bilateralen kaputt, könnte das am Ende der Tage, weil man keine Zwischenlösung mehr hat, dem Vollbeitritt Auftrieb geben.

Es ist gut, dass sich vertrauenswürdige Persönlichkeiten wie Jakob Kellenberger, alt IKRK-Präsident und ehemaliger Chefunterhändler der Bilateralen I, dafür aussprechen, dass wir den EU-Beitritt nicht ganz aus den Augen verlieren oder dass wir ihn nicht erneut als absolut nicht in Frage kommende Variante verteufeln, selbst wenn jetzt (vorläufig) die Rettung der Bilateralen im Vordergrund steht. Kellenberger schreibt:

«In einem Land in der geografischen und kulturellen Lage der Schweiz mit der Geschichte, die sich auf ihrem Gebiet abgespielt hat, wäre ein EU-Beitritt der natürliche Weg der Schweiz. Nicht der Beitritt ist begründungspflichtig, sondern seine Ablehnung. Unser politisches und gesellschaftliches System würde durch ihn nicht gefährdet.»

Die Bilateralen, die gut sind, können zwar Feinde des noch Besseren sein: Man kann mit ihnen recht gut und lange leben, ohne das Ganze übernehmen zu müssen. Sie können sich längerfristig aber auch wie der 1992 verteufelte EWR als höchst erwünschtes und nötiges «Trainingslager» für den Vollbeitritt auswirken. Macht man die Bilateralen kaputt, wie dies die Ecopop-Initiative sicher täte und die Masseneinwanderungs-Initiative leichtfertig ebenfalls in Kauf genommen hat, dann könnte auch das am Ende der Tage, weil man keine Zwischenlösung mehr hat, dem Vollbeitritt Auftrieb geben.

Freundliche Rauchzeichen am Horizont von Brüssel

Während alle rätseln, wie es mit dem soeben verabschiedeten Verhandlungsmandat für eine allerseits akzeptable Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative weitergeht und welche Chancen die vielen unbrauchbaren Vorschläge wie Kontingente oder Migrationsbesteuerung (Blocher) haben, sind wenig beachtet die anderen wichtigen Verhandlungen für ein Rahmenabkommen weitergeführt und ist in Brüssel soeben eine zuversichtlich stimmende Zwischenbilanz gezogen worden.

Was der schweizerische Staatssekretär Yves Rossier vorweg bekannt gegeben hatte, wurde von seinem Chef, Bundesrat Didier Burkhalter, bekräftigt: Die Schweiz wird in einer künftigen Gesamtlösung für die Bilateralen nicht automatisch EU-Recht übernehmen müssen, und sie wird bei der Entwicklung von neuem Recht ihre Meinung einbringen können, bevor es in der EU verabschiedet wird. Offen ist aber noch immer die Rolle des Europäischen Gerichtshofes, das heisst die Frage, ob es in einem Konflikt nach einem Entscheid der Justiz noch Spielraum für politisches Handeln gibt.

Ein Personalwechsel mit Folgen?

Der irische EU-Chefdiplomat David O’Sullivan, der bisher mit der Schweiz verhandelt hat, wird künftig eine andere Aufgabe übernehmen (EU-Botschafter in Washington) und darum durch den Polen Maciej Popowski, bisher stellvertretender Generalsekretär, ersetzt. Wie wird sich dieser Personalwechsel auswirken? Wenn der polnische Diplomat eine «polnische» und nicht, wie er sollte und wohl auch tun wird, eine europäische Haltung einnähme, dann könnte man mit nur wenig Verständnis für helvetische Extrawürste rechnen.

Vielleicht erinnert man sich: Als der Bundesrat im April 2012 ziemlich wirkungslos die Ventilklausel bei der Personenfreizügigkeit aktivierte, rief der polnische Aussenminister Radoslaw Sikorski seine Landsleute auf, die Schweiz als Ferienland zu boykottieren. Die Schweiz hat bei den alten EU-Ländern, weil sie mehr oder weniger Nachbarn sind, wesentlich mehr Kredit als bei den erst 2004 beigetretenen neuen Ländern, die mit rigorosen Anpassungen ihre Position im heutigen Club der 28 erarbeiten mussten.

Man darf davon ausgehen, dass die Schweiz 2030 dem Gebilde angehören wird, das dannzumal die EU sein wird.

Und eines ist einigermassen klar: Es wird keine institutionelle Konsolidierung und damit auch keine Erweiterung der Bilateralen (z.B. mit einem von der schweizerischen Elektrizitätswirtschaft gewünschten Stromabkommen) geben, solange der Umgang mit der Personenfreizügigkeit nicht geklärt ist. Dafür will man sich aber mindestens bis 2016 Zeit lassen, und solange wird der andere Verhandlungsstrang blockiert sein, auch wenn da unsere Diplomaten gute Arbeit leisten.

In der vergangenen Woche kam die Meldung, dass die Schweiz «in Bewegung» sei. Maliziös wurde dann aber einschränkend beigefügt, dass dies nur in sportlicher Hinsicht der Fall sei, viele würden in der Freizeit diesbezüglich nicht auf der faulen Haut liegen. Wie viel Trägheit gibt es jedoch weiterhin in politischer Hinsicht?

Auf und ab und hin und her

Die Schweiz ist zurzeit auch politisch durchaus in Bewegung. Dabei sind allerdings zwei Bewegungsarten zu unterscheiden: die Bewegung des unergiebigen Hin und Her und des aufgeregten Auf und Ab. Daneben aber doch auch die langsame Bewegung hin zu «mehr Europa». Man muss sich gedulden und auch an Zielen arbeiten – oder sie wenigstens befördern –, die man selber nicht mehr erleben wird. Das tun zum Beispiel ja auch Förster…

Ohne deswegen in einen illusionären Utopismus zu verfallen, darf man davon ausgehen, dass die Schweiz um 2030 dem Gebilde angehören wird, das dannzumal die EU sein wird. Und es könnte sein, dass man vor dem Beitritt eine solche Mitgliedschaft mit dem gleichen Reflex fordern wird, wie das schon bei der lange Zeit abgelehnten Uno-Mitgliedschaft der Fall war: Man wird die Mitgliedschaft fordern, weil man drinnen mehr bewirken kann als draussen, und man wird energisch ein Ende der eigentlich selbstverschuldeten Diskriminierung fordern.

Quellen

Nächster Artikel