Ausser Kontrolle

Wie aus einem gewöhnlichen Einbruchsdelikt ein einzigartiger Justizfall gemacht wird.

Der so genannte Kriminaltourismus: Was ist das eigentlich? (Bild: Nils Fisch)

Wie aus einem gewöhnlichen Einbruchsdelikt ein einzigartiger Justizfall gemacht wird.

Hier, vor dem Kantonsgericht, sitzt er also, der Kriminaltourist, gekrümmt an einem Tischchen, mit Tränen in den Augen. Scheinbar ganz so, wie ihn die «Basler Zeitung» schon nach dem Verfahren vor dem Strafgericht dargestellt hat. Als durchtriebenen Schwindler und perfekten Schauspieler. Als typischen Rom eben.

Den nächsten Auftritt hat er diesen Dienstag im Berufungsverfahren vor dem Kantonsgericht. Der Vorsitzende Richter Dieter Eglin (SVP) ist gewappnet. Er konfrontiert den angeblichen Rom mit allen möglichen Widersprüchen, die sich in früheren Befragungen ergeben hatten.

Wohnte er nun seit Geburt bei den Eltern oder doch erst seit 2001 beziehungsweise 2003, wie auch schon behauptet? Wie viele Geschwister wohnten dort sonst noch – drei oder vier? Wie viel verdiente er auf dem Bau tatsächlich – 1400 Euro, 1150 oder 750? Kannte er seine Komplizin nicht vielleicht doch schon etwas länger, so wie sie sagt? Und, und, und.

Noch mehr Verwirrung

Der junge Mann beantwortet Frage um Frage, höflich zumeist, manchmal auch etwas aufgewühlt, traurig. Er erzählt von Ein- und Auszügen einzelner Familienmitglieder, von Umzügen des ganzen Haushaltes, was den Überblick erschwere, er spricht von brutto und netto und jenem Teil seines Einkommens, den er direkt den Eltern abgab. Und dann kommt er auch noch auf seine Komplizin zu sprechen, Mademoiselle Samantha, die er ganz bestimmt erst kurz vor den beiden Einbrüchen in Basel und Muttenz kennengelernt habe.

Gut nachvollziehbar war längst nicht alles, was er sagte, und manchmal nahm die Verwirrung mit seinen Aussagen eher noch zu. Als der junge Mann zum Beispiel erklärte, er und die Mademoiselle seien vor den beiden Einbrüchen um exakt 8.58 Uhr mit dem Bus in Basel angekommen, um dort zu shoppen.

Warum er sich an den Zeitpunkt so genau erinnern könne, wurde er gefragt.

Weil er noch sehr genau wisse, dass er fünf oder zehn Minuten vor neun in Basel gewesen sei. Die paar Minuten Differenz sind vielleicht nur ein Detail, aber ein typisches. Im Leben dieses jungen Mannes scheint vieles aus-ser Kontrolle zu sein, verschwommen auch, spätestens seit er im Alter von 15 die Schule schmiss und anfing zu kiffen und zu saufen und sich das dafür nötige Geld auch mit Einbrüchen und Diebstählen beschaffte.

Oder besser gesagt: zu beschaffen versuchte. Denn auch als Krimineller stellte er sich nicht sehr geschickt an, er wurde immer wieder zur Fahndung ausgeschrieben, gefasst und bestraft, in Frankreich, Deutschland, Belgien und der Schweiz.

Eigentlich müsste er sich um den behinderten Bruder kümmern

Mindestens so häufig versprach er Besserung, nur schon wegen seines jüngeren Bruders, der seit einem schweren Unfall behindert ist. Um ihn müsste er sich als Ältester eigentlich kümmern, weil die Eltern mit ihrer Arbeit und den anderen fünf Geschwistern schon mehr als genug zu tun haben.

Irgendwann hatte er dann offenbar tatsächlich einen richtigen Job – auf dem Bau. Trotzdem wurde er wieder rückfällig. Wegen Mademoiselle Samantha, die ihn nach der Shoppingtour zu den Einbrüchen angestiftet habe, wie er behauptet.

Das Gegenteil konnten ihm weder das Strafgericht noch das Kantonsgericht nachweisen. Den beiden Instanzen gelang es nicht einmal, die grundlegende Frage nach der Herkunft zu klären. Nach dem Prozess vor dem Strafgericht im August hiess es noch, er habe Kontakte zu Verwandten in kriminellen Romacamps. Vor dem Kantonsgericht stellte sich dann aber heraus: Der Mann ist offenbar gar kein Rom, sondern ein Franzose mit serbischen Wurzeln, aufgewachsen in einem Vorort von Paris.

Trotz der vielen offenen Fragen war schon das Strafgericht überzeugt, dass der Mann bei den Delikten in Muttenz und Basel der Drahtzieher war. Dass er endlich gestoppt werden muss, mit einer Strafe, die wirklich wehtut.

Saufen, kiffen: In diesem Leben scheint so vieles verschwommen

Darum das Urteil: 24 Monate unbedingt statt nur 10 wie beantragt. Im Kampf gegen die Kriminaltouristen müsse die Gangart generell verschärft werden, sagte Gerichtspräsident Enrico Rosa damals. Die «Basler Zeitung» war begeistert. Das Blatt, das bereits im Vorfeld auf den aussergewöhnlichen Prozess aufmerksam gemacht worden war, hatte Stoff für eine Kampagne wider die angebliche Kuscheljustiz. Es war die perfekte Geschichte mit klar verteilten Rollen: der durchtriebene Verbrecher und die unfähige Staatsanwaltschaft auf der einen, das heldenhafte Gericht auf der anderen Seite.

Doch entspricht sie auch der Realität? Oder ist der junge Mann vielleicht doch eher hilflos als durchtrieben? Und das Gericht nicht erhaben, sondern befangen, als zentraler Bestandteil einer Kampagne?

Sehr ernsthaft stellte sich diese Fragen auch die Staatsanwaltschaft. Darum focht sie das Urteil an – gemeinsam mit dem Angeklagten. Eine ziemlich einmalige Konstellation in der Justiz.

Das Kantonsgericht unter dem Vorsitz des SVP-Richters liess sich davon nicht beeindrucken und stützte das Urteil mit einer juristisch recht spitzfindigen Begründung, wie wir bereits berichtet haben. Auch wenn die Verteidigung den Fall nun dem Bundesgericht vorlegen will, kündigt die Staatsanwaltschaft jetzt schon Konsequenzen an: Bei vergleichbaren Delikten werde sie künftig höhere Strafen fordern. Damit scheinen die Hardliner ihr Ziel erreicht zu haben: höhere Strafen mit einer möglichst grossen abschreckenden Wirkung.

Ob die Botschaft bei den Delinquenten ankommt? Beim 22-Jährigen Franzosen scheint das schon mal nicht der Fall zu sein, nur aus sprachlichen Gründen. Das mündlich begründete Urteil des Kantonsgerichts wurde ihm nicht mehr übersetzt, obwohl er inständig darum bat. «Ich habe gar nichts verstanden», sagte er – und weinte.

Ein Schauspiel? Wer unbedingt will, kann das selbstverständlich auch so sehen.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 01.03.13

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