Azorenhoch über Europa

Fehlkonstrukt, Schönwetterprogramm – so wird gern gegen die EU polemisiert. Doch die letzten Wochen zeigen eine Trendwende: Die Stimmung gegenüber dem vereinten Europa dreht sich vermehrt ins Positive.

Kohl ist tot, es lebe die EU: Die Junge Union beim Gedenkanlass in Speyer. (Bild: Keystone/Carsten Koall)

Medial erscheint «Europa» zur Zeit vor allem als Poker zwischen zwei Chefunterhändlern in Sachen Brexit, ein Monsieur Barnier auf Seiten der EU und ein Mister Davis für die Briten.

Europa besteht aber nicht nur aus Brexit. Der Integrationsprozess läuft fast routiniert weiter, ohne dass wir das gross merken: Die Menschen profitieren auch jenseits des Sommertourismus von den alltäglichen Mobilitätsfreiheiten, profitieren mit grosser Selbstverständlichkeit von Rechtsgarantien, profitieren vom Schutz vor Marktmacht-Missbrauch durch Grossunternehmen (etwa von Google), profitieren von Lebensmittel- und Medikamentenkontrollen etc.

Im Falle der Google auferlegten Busse von 2,4 Milliarden Euro kam sogar Lob aus der Schweiz, allerdings verbunden mit schweizerischem Gemecker, dass das Verfahren gegen den Giganten zu lange, nämlich zehn Jahre, gedauert hat. Wären die Eidgenossen schneller gewesen? Und was haben diese denn in dieser Sache unternommen?

Die EU hat die Roaming-Gebühren abgeschafft. Vielleicht wäre dies ein Argument, doch endlich beizutreten?

Die EU macht nicht einfach nichts. Das zeigen auch die kürzlich, am 15. Juni, beseitigten Roaming-Gebühren, was ebenfalls zeigen könnte, dass «Brüssel» die Interessen der Basis verficht und in diesem Fall die Politik die Telecom-Branche disziplinieren konnte. Der entscheidende Beschluss fiel am 6. April im Europäischen Parlament, von dem man gerne meint, es habe fast nichts zu sagen.

Auch dieser Entscheid könnte dem Gemeinschaftsprojekt mehr Anerkennung bringen. Doch schon bald wird diese Neuerung ebenfalls zur Selbstverständlichkeit werden, wenn sie es nicht bereits ist.

In der Schweiz kommen die Menschen allerdings nicht in den Genuss dieser schönen Errungenschaft. Darum wird dieses Land nun in der NZZ als «Roaming-Hölle» bezeichnet. Vielleicht wäre dies ein Argument, endlich doch der EU beizutreten?

Darüber hinaus hat sich die EU dazu aufgerafft, Ungarn und Polen wegen der Verletzung demokratischer Grundprinzipien ernsthafte Warnungen zukommen zu lassen. Und sie hat, auch zusammen mit dem Internationalen Währungsfonds, Griechenland die benötigte Milliardenhilfe zugesprochen.

Aufbruch aus dem Nichts

Die gesamte Wirtschaftskonjunktur verläuft zur Zeit erfreulich gut, und der Euro hat an Wert zugelegt. Dabei ist allerdings nicht klar auszumachen, was eigentlich wem hilft: die Wirtschaft der EU oder die EU der Wirtschaft.

Wir erinnern uns daran, dass in weniger guten Zeiten europhobe Stimmen höhnisch bemerkten, dass die EU bloss ein Schönwetterprogramm sei. Nicht zu bestreiten ist, dass das Gemeinschaftsprojekt gerade wenn es besonders benötigt wird, der Gefahr ausgesetzt ist, dass Unionsmitglieder ihr Heil in egoistischen und protektionistischen Antworten suchen. Und dass es leichter ist, Gemeinsinn zu pflegen, wenn es wirtschaftlich gut läuft, wenn der berühmte Kuchen gross ist und darum auch die einzelnen Stücke grösser sind.

Nun hat auch noch das Phänomen Macron (eine einzelne Person mit ihrer Anhängerschaft) gezeigt, dass es einen Aufbruch fast aus dem Nichts gibt, jedenfalls nicht einfach von günstigen Ausgangslagen abgeleitet werden kann. Es sei denn, man sieht in den ungünstigen Gesamtverhältnissen in Wirtschaft und Politik, in der herrschenden Misere, eine gute Voraussetzung für eine Bereitschaft zur Wende.

Die Wende war allerdings schon vor oder gleichzeitig mit Macron zu spüren: mit der von Deutschland ausgehenden und auf andere Länder übergreifenden und im November 2016 lancierten Strassenbewegung «Pulse of Europe». Macron hat zwar eine Welle erzeugt – am Anfang war er jedoch selbst bloss Bestandteil einer bereits anrollenden Welle.

Wellenerzeuger oder nur Wellenreiter? Vor diese Frage gestellt, können wir uns an Jacob Burckhardts oft zitierten Satz aus dem Jahr 1867 erinnern: «Wir möchten gerne die Welle kennen, auf welcher wir im Ozean treiben, allein wir sind diese Welle selbst.»

Günstige Verhältnisse

Es kann zudem nachdenklich machen, wenn man sieht, wovon Entwicklungen abhängen. Jedenfalls nicht einzig von der Bonität der Projekte, etwa des Europa-Projekts, sondern von Konstellationen, die bestehende Vorhaben entweder erschweren oder erleichtern.

Im Falle des Europa-Projekts besteht die Neigung, feststellbares Nichtfunktionieren gegebenen Unzulänglichkeiten zuzuschreiben (Blochers Schlagwort: Fehlkonstruktion). Aufschwung, besseres Funktionieren, wird dagegen nicht der Grundqualität des Projekts zugeschrieben, sondern als Effekt gesehen, der bloss günstigen Umständen zu verdanken ist.

Günstige Verhältnisse liegen jetzt jedenfalls vor: die aufschreckende Wahl eines «enfant terrible» zum Präsidenten der einflussreichsten Macht der Welt, die irritierende Verabschiedung Grossbritanniens aus dem Gemeinschaftsprojekt, die ausgebliebenen Triumphe der Europafeinde in Österreich und in den Niederlanden, dann die Wahl eines Hoffnungsträgers zum französischen Staatspräsidenten.

Kohls Ableben zum «richtigen» Zeitpunkt

Und kürzlich konnte Helmut Kohls Ableben genutzt werden, um an dessen Totenfeier zusammen mit dem Verstorbenen auch sein Engagement für Europa zu zelebrieren. Der 87-jährige grosse Kanzler ist zum «richtigen» Zeitpunkt gestorben, ein halbes Jahr zuvor hätte sein Weggang nicht den gleichen Effekt gehabt, als nun, da der Trend zu mehr EU-Zustimmung hingeht. Denn wir erinnern uns, wie 2012 die wahrhaft ehrenvolle Erteilung des Friedensnobelpreises an die EU beinahe wirkungslos verpuffte.

Nun übernimmt Estland die EU-Präsidentschaft. Es ist fast wie ein Omen, dass dieses so zukunftsfreudige wie europafreundliche Land wegen des Wegfalls Grossbritanniens ein halbes Jahr früher die Koordination der EU übernehmen darf und diese Aufgabe mit Inbrunst und Zuversicht angeht.

Was die verschiedenen von Russland ausgegangenen Aggressionshandlungen alleine nicht geschafft haben (die Angriffe auf die Ukraine, die Cyberattacken und die Expansion in Syrien), hat nun die Kombination der genannten Faktoren zustande gebracht: Das europäische Zusammenstehen und Zusammengehen wird wieder vermehrt als notwendig erachtet, die Kooperationsbereitschaft hat wieder zugenommen, das Gemeinschaftsprojekt hat wieder Glanz und einen positiven Horizont erhalten.

Die Probleme haben sich nicht gelöst, aber die Stimmung ist eine andere geworden.

Das wird nicht für immer so bleiben, ist aber ein Gelegenheitsfenster (window of opportunity), das genutzt und über Nutzung verlängert, länger offengehalten werden kann, vielleicht bis zu den Europawahlen von 2019.

Zentrale Probleme mit der Eurozone, der Arbeitslosigkeit, dem Flüchtlingszustrom, dem Terror und den uneinsichtigen Demokratiefeinden in Ungarn und Polen, sie haben sich nicht einfach in Luft aufgelöst. Aber die Stimmung ist eine andere geworden.

Die Stimmung? Die löst Probleme nicht, sie erleichtert aber deren Lösung, wenn sie gut ist. Wie sich schlechte Stimmung auswirkt, haben wir in den letzten Jahren gesehen. Schlechte Stimmung führt sogleich zu einer Verschärfung der Kritik an der EU, selbst wenn diese insbesondere im Falle der Globalisierungsschäden für das Kritisierte nicht selber verantwortlich ist. Mehr dazu in einem demnächst im Basler Schwabe-Verlag erscheinenden Buch «Gerechtigkeit für Europa. Eine Kritik der EU-Kritik».

Im Falle einer Schönwetter-Diagnose kann, wenns um politisches Wetter geht, auch Wunschdenken im Spiel sein. Man könnte auch andauernde Morgenröte diagnostizieren, ewige Morgenröte, was allerdings ein Widerspruch in sich selber ist.

Morgenröte ist eine zum Totalitarismus tendierende Vorstellungskategorie.

Morgenröte wurde und wird für sehr Verschiedenes in Anspruch genommen: Im Schweizerpsalm von 1841 wird im Morgenrot «daher getreten», die griechischen Nazis wollen «goldene Morgenröte» sein, und dann gibt es noch das SVP-Sünneli, das ebenfalls so etwas wie aufgehende Sonne suggeriert. Diese Symbolbilder sollten nicht die Unseren sein.

Morgenröte ist eine zum Totalitarismus tendierende Vorstellungskategorie. Sie lebt von der Erwartung, dass der «Tag der Erfüllung» kommt und dass er, einmal eingetreten, die Geschichte im positiven Zustand gleichsam anhalten wird. Nie mehr Dämmerung, Sonnenuntergang und Nacht!

Die Schönwetter-Metapher trägt die Möglichkeit in sich, dass durchaus wieder einmal Wolken aufziehen können. Im Grossen und Ganzen sind wir keine Wettermacher. Das Gesellschaftsklima können wir mit unserer Haltung jedoch mitbestimmen. Wir können und sollten unabhängig von Kälteeinbrüchen unsere positiven Haltungen bewahren. Und das wirkt sich dann wiederum auf das politische Wetter aus.

 PS: Kennt man noch die Holzhäuschen (oft im Typus Chalet) mit den zwei kleinen Portalen und den beiden Figuren, einem Weiblein und einem Männlein, die auf Grund der Luftfeuchtigkeit anzeigen können, ob sich das Wetter zum Guten oder Schlechten wendet? In diesen Dingern ist es – warum eigentlich? – das Privileg der Frau, den Sonnenschein anzukünden, während der Mann mit Regenschirm für das schlechte Wetter zuständig ist.

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