Kein deutscher Wahlkreis ist so weit weg von der Hauptstadt Berlin wie Lörrach – nicht nur geografisch, sondern auch politisch. Vor der Bundestagswahl interessieren hier vor allem der Frankenkurs und die Fitness der Schweizer Wirtschaft.
Thomas Mengel etwa steht seit Stunden auf dem Marktplatz von Lörrach und hofft, dass sich jemand für ihn und das Programm seiner Partei, der SPD, interessiert. Der 54-Jährige tritt erstmals im Wahlkreis Lörrach für die Bundestagswahl an. Er kommt aus dem fünfzig Kilometer entfernten Staufen bei Freiburg, man kennt ihn hier nicht. Der promovierte Chemiker ist gerade erst dabei, Teile seines Wahlkreises und deren Probleme kennenzulernen. Es ist eine Art Realitätscheck.
Die Partei-Prominenz fehlt
Später an diesem Samstagmorgen wird Mengel sagen, am häufigsten hätten ihn die Passanten auf das Thema der viel zu hohen Mieten für Wohnungen im Raum Lörrach angesprochen. Das erstaune ihn. Er hätte das Thema in München und Hamburg angesiedelt, dazu in Universitätsstädten wie Freiburg. Aber nicht in seinem Wahlkreis, nicht in Lörrach.
So ist es oft in der Politik. Die Grünen und die SPD schicken ihre gesamte Prominenz nach Südbaden – allerdings nur bis Freiburg. Als ende dort die Bundesrepublik. Dabei könnte ein intensiver Blick in den guten alten Atlas für Abhilfe sorgen. So liessen sich bereits ganz oberflächlich einige Verbindungslinien allein aus der Geografie ablesen. Zum Beispiel, dass es keine vernünftige Ost-West-Verbindung auf der Schiene wie auf der Strasse gibt.
Keine Details zum Mietspiegel
Die unmittelbare Nähe zu Basel und seiner Industrie, die im deutschen Hinterland für Prosperität und allerlei Begleitprobleme sorgt, das Gefälle zwischen Stadt und Land, die vielen Verflechtungen, die sich daraus notwendig ergeben, all das liesse sich ablesen.
Und auf einer Landkarte der Bildungseinrichtungen liesse sich erahnen, dass für viele Abiturienten aus Lörrach und Weil die Uni Basel längst zur heimischen Hochschule geworden ist. Daran hat auch nicht geändert, dass Baden-Württemberg seine Studiengebühren vor einem Jahr wieder abgeschafft hat. Und dann ist da eben die Wohnungssituation.
Nun ist es nicht so, dass die Parteien das Thema Mieten nicht auf dem Schirm hätten. In allen Wahlprogrammen gibt es dazu Forderungen und Versprechungen, von der Forderung nach einer Mietpreisbremse bis zur Absenkung bei der zulässigen Mieterhöhung nach einer Renovierung.
Hintergrund des Problems mit den Mieten in Deutschland ist, dass die Menschen wieder vom Land zurück in die Städte und die Ostdeutschen in den Westen ziehen – dorthin, wo es Arbeitsplätze gibt.
Magnete sind aber nicht nur München oder Stuttgart, sondern auch die Schweiz, ganz besonders Basel – und nicht alle, die dort arbeiten wollen, wollen oder können auch dort wohnen. Der Landkreis ist seit 1985 von 190 000 auf 225 000 Einwohner gewachsen, Lörrach steuert auf 50 000 Einwohner zu, Weil am Rhein auf 30 000. Der Wohnungsbau kommt nicht nach, der Platz wird knapp, speziell entlang der vor zehn Jahren ausgebauten Regio-S-Bahn-Linien.
Das treibt die Preise, und nicht alle können mithalten. Man hätte gerne Details gewusst. Aber die bürgerlichen Parteien und die CDU-Oberbürgermeisterin haben vor wenigen Wochen den Antrag der SPD im Lörracher Gemeinderat abgelehnt, einen Mietspiegel zu erheben, also die tatsächlich bezahlten Preise zu ermitteln. Und so bleibt alles, was dazu im Wahlkampf gesagt wird, vage.
Aber wie führt man Wahlkampf in einer prosperierenden Region mit Programmen, die in den Berliner Parteizentralen ausgetüftelt und auf die grossen Linien fürs ganze Land zugeschnitten sind?
Die aber keine Antwort beinhalten auf die sehr speziellen Umstände in diesem Landstrich vor den Toren Basels, von dem in Berlin kaum jemand etwas weiss? Also bleiben die Flyer liegen, fällt der Wahl-kampf weitgehend aus, man ringt nicht mit Argumenten, sondern mit bunteren Luftballons.
Ausufernder Einkaufstourismus
In Lörrach müsste ja auch eher über Fachkräftemangel als über die Arbeitslosenquote diskutiert werden. Nicht zuletzt dank der vielen Arbeitsplätze in der Nordwestschweiz liegt die Arbeitslosenquote bei lediglich 3,5 Prozent, bundesweit sind es 6,8 Prozent. 5000 Einwohner der Stadt Lörrach verdienen ihr Geld als Grenzgänger in der Schweiz, das sind 20 Prozent aller abhängig Beschäftigten.
Und sie verdienen dort überdurchschnittlich gut und interessieren sich ganz praktisch für den Kurs des Frankens und die wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz. Kein Wunder, dringen Linke und Sozialdemokraten mit ihrer Mindestlohnkampagne hier kaum durch. In Brandenburg soll es Friseurinnen geben, die fünf Euro die Stunde verdienen, nicht aber in Lörrach. Viele Klagen bewegen sich auf hohem Niveau.
Die Grünen sehnen sich nach der direkten Demokratie.
Wann immer nicht über Syrienkrieg und Eurokrise, Steuerpläne oder Kita-Plätze, sondern über regionale Fragen diskutiert wird, rückt die Nachbarschaft zur Schweiz in den Fokus. Die Grünen würden gerne einige Anleihen in Sachen direkter Demokratie in der Schweiz nehmen, Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat sich mehrfach als regelrechter Schweiz-Fan geoutet. Dabei bleibt es, auch wenn die grün geführte Landesregierung in einer grossen (Stuttgart 21) und mehreren kleinen Abstimmungen gescheitert ist.
Ist das Modell übertragbar? Die Sympathie ist gross, die Skepsis ebenso, man wird am 22. September mit einem Auge nach Bern schauen.
Ein brennendes Thema bei den Menschen, aber kein Thema bei den Diskussionsrunden der Kandidaten, ist der ausufernde Einkaufstourismus. Dabei geht es um viel Geld: 250 Millionen Euro an Steuereinnahmen lässt sich der Bundesfinanzminister jedes Jahr entgehen, indem er Schweizer Kunden beim Einkaufen in Deutschland die 19-prozentige Mehrwertsteuer erstattet. 150 Mitarbeiter des Zolls sind zwischen Weil am Rhein und Konstanz nach Angaben der Gewerkschaft mit nichts anderem beschäftigt, als die grünen Ausfuhrscheine abzustempeln.
Ärgernis Mehrwertsteuer
Doch die Vorstösse der Gewerkschaft wie auch der Schweiz, die Mehrwertsteuerzurückerstattung zumindest an einen Mindestbetrag zu koppeln, stossen beim Handel auf erbitterten Widerstand. Und die beiden CDU-Bundestagsabgeordneten Armin Schuster (Lörrach) und Thomas Dörflinger (Waldshut) haben sich auf die Seite der Einzelhändler in der Region gestellt. Diesen bringen die Schweizer Kunden rund 1,5 Milliarden Euro Umsatz pro Jahr.
Sie fürchten Einbussen, sollte tatsächlich wie vorgeschlagen eine Bagatellgrenze von 100 Euro kommen, die von der Rückerstattung ausgenommen wären. Erfolgreich haben sich Schuster und Dörflinger beim Bundesfinanzminister für die Interessen der Einzelhändler eingesetzt und den Vorschlag abgewehrt.
Geteilte Verantwortlichkeit
Aber Wahlkampf machen sie mit diesem Wirken nicht – bei den deutschen Kunden nämlich ist die Praxis nicht sonderlich beliebt. «Das Hofieren» der Schweizer Kunden, zum Beispiel mit einem Schweizertag am 1. August, «stösst bei den heimischen Kunden zunehmend auf Unmut», kommentierte die «Badische Zeitung» kürzlich.
Bleiben die Geografie und damit der Verkehr. Die Hochrheinstrecke der Bahn sollte längst elektrifiziert werden, Basel drängt, Schaffhausen drängt, beide sind bereit, sich finanziell zu beteiligen. Die Landesregierung drängt ebenfalls. Aber für Berlin handelt es sich bei der Verbindung zwischen Grenzach-Wyhlen und Erzingen um ein Nebengleis.
Die Autobahn A 98? Es wird geplant und auch hier und dort gebaut, aber die Fertigstellung wird eine Sache künftiger Generationen von Politikern.
Der viergleisige Ausbau der Rheintalbahn? In weiter Ferne. Südlich von Offenburg steckt die Bahn im Planungsdschungel fest. Weil der Bund bezahlen muss, aber kein Geld hat, hat er es nicht eilig. Und weil das Land für die Bewohner der vielbefahrenen Achse Richtung Schweiz einen besseren Umweltstandard verlangt als üblich, dies aber Geld kostet, drückt es nicht aufs Tempo.
Einmal mehr beweist der Föderalismus deutscher Prägung seine Konstruktionsmängel. Denn Verantwortung wird geteilt und nicht eindeutig zugewiesen.
Keiner ist zuständig
Im Zweifelsfall ist dann stets niemand zuständig. Ganz besonders dann, wenn die Regierungen in Berlin und Stuttgart politisch unterschiedliche Farben repräsentieren. Und der Fluglärmstreit? Ein gefundenes Fressen für all jene Bundestagskandidaten, die noch immer glauben, die nationale Souveränität werde in der Anflugschneise von Kloten verteidigt, und die überzeugt sind, es gäbe schlechten Lärm über Deutschland und guten über der Schweiz. Aber bei nationalen Wahlen lassen sich mit solchen Tönen Stimmen fangen.
Ansonsten steht der Wahlkreis Lörrach meist im Windschatten, dies zeigt nicht nur der ausgebliebene Auflauf von Parteiprominenz aus Berlin. Die besten Aussichten hat CDU-Mann Armin Schuster, bis zu seiner Wahl in den Bundestag (2009) Leiter der Bundespolizeidienststelle in Weil am Rhein. Vor vier Jahren trat er noch als politischer Quereinsteiger auf. Aber nicht zuletzt durch sein Engagement für den Ausbau der Rheintalbahn sowie durch seine Arbeit im Untersuchungsausschuss, der die NSU-Mordserie aufgearbeitet hat, hat er sich Respekt verschafft.
So funktioniert die Bundestagswahl Rund 60 Millionen Deutsche können am 22. September einen neuen Bundestag wählen. Sie haben jeweils zwei Stimmen. Die erste für den jeweiligen Direktkandidaten in den 299 Wahlkreisen. Sie werden nach dem Mehrheitswahlrecht ermittelt. Weitere 299 Sitze werden – nach dem Verhältniswahlrecht – über die Zweitstimme vergeben. Die Zuweisung der Mandate erfolgt über die Landeslisten der Parteien. Gewinnt eine Partei über die Auszählung der Erststimmen mehr Mandate, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis prozentual zustehen, dann wird dies über weitere Mandate ausgeglichen. Dadurch wird der Bundestag zahlenmässig grösser als die Regelgrösse von 598 Abgeordneten.
Artikelgeschichte
Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 13.09.13