Die Krise in Venezuela betrifft auch eine kleine Gemeinschaft in Basel. Michel Schultheiss hat sich umgehört, wie diese Menschen damit umgehen. Am Samstag wollen Venezolaner bei der Kaserne gegen Präsident Maduro demonstrieren.
Yokabel Melo de Rosario ist ausser sich. «Das ist wie in einem schlechten Film», sagt die Venezolanerin, «wie ist es möglich, dass es einem reichen Land an Grundnahrung fehlt?»
Die junge Mutter zweier Kinder kommt aus Tumeremo im Südosten Venezuelas. Seit drei Jahren lebt sie in Basel. Von hier aus schickt sie ihren Eltern jeden Monat Geld. Dringend nötig ist die Hilfe aus der Schweiz: Ihr Vater war Taxifahrer, die Mutter betrieb ein Kleidergeschäft. Das ist vorbei. Der Vater kann sein kaputtes Auto nicht reparieren lassen. Dann wurde der Mutter auch noch der Laden ausgeraubt, dessen Miete sie ohnehin nicht mehr bezahlen kann. Wie viele Venezolaner schlagen sich die beiden irgendwie durch. Sie verkaufen zum Beispiel Reis und Zucker aus Brasilien.
Yokabels Vater leidet zu allem Übel auch noch an Gicht. Medikamente gibt es in Venezuela generell zu wenige, wie Yokabel selbst erfahren musste. Als sie sich mit ihrer ersten Tochter – damals noch ein Baby – im Bundesstaat Bolívar aufhielt, kam es zu einer brenzligen Situation: Die einzige Milchnahrung, die sie für ihr Kind finden konnte, war gestreckt. «Womit genau, das möchte ich gar nicht erst wissen», erzählt Yokabel. Prompt bekam das Baby Magenschmerzen. Im öffentlichen Spital konnte man nicht weiterhelfen. Eine Privatklinik war schliesslich die Rettung. Bezahlbar war die Behandlung aber nur dank Schweizer Lohn.
Von der Krise betroffen
Geschichten wie diese kennen auch andere ihrer Landsleute in Basel. Sie erzählen, wie in Lebensmittelgeschäften und Apotheken derzeit die Regale leerstehen, wie die Menschen vor den Läden Schlange stehen, sie erzählen vom Zerfall des Erdölpreises, von der Inflation und immer wieder: von den Auseinandersetzungen auf der Strasse, die schon einige Tote gefordert haben. Die Situation der Verwandten in der alten Heimat machen viele Venezolaner hier betroffen.
Die Community in Basel ist überschaubar: Das Statistische Amt Basel zählt gerade mal 78 im Kanton lebende Venezolaner – schweizweit sind es über 1200. Die einen kamen durch eine Heirat hierher. Andere bewog die wirtschaftliche Situation und die hohe Kriminalität zum Auswandern. Bei vielen war es eine Kombination aus alledem.
Wütend sind die Venezolaner in Basel zunehmend auf einen Mann: Präsident Nicolás Maduro. «Auch in Basel wachen die Venezolaner langsam auf», sagt Yokabel. Bis vor Kurzem hat sie sich noch als apolitisch bezeichnet.
«In der Familie können wir nicht über Politik sprechen.»
Maduro ist der Nachfolger des 2013 verstorbenen Hugo Chávez und führt das Land in dessen Sinne fort. Sympathisanten hat er in Basel kaum. Jedenfalls lässt sich niemand aus der venezolanischen Community finden, der die Regierung offen unterstützen würde. Unter Maduros Gegnern wird dagegen offen gesprochen. Und sie werden tatsächlich vermehrt aktiv. Schon zweimal – zuletzt im April – kam es zu einer Anti-Maduro-Demo bei der Kaserne. Diesen Samstag gehen sie erneut auf die Strasse.
Die Opposition wirft dem Präsidenten Nicolás Maduro vor, sich wie ein Diktator aufzuführen. Dieser wiederum spricht von einem Putschversuch. In Basel solidarisieren sich viele Venezolaner mit den Protesten gegen den Präsidenten.
Nicht alle denken gleich
Dabei sind es auffällig oft Frauen, die hier etwas tun wollen. Naima Cuica zum Beispiel – Tochter des Jazzmusikers Víctor Cuica, der gelegentlich in Basel spielt – organisiert als Präsidentin des Vereins «Venezolaner in Basel» regelmässig Benefizveranstaltungen. Mariana García aus Caracas hilft ihr dabei. Sie war es auch, die für diesen Samstag das Gesuch für die Demo eingereicht hatte.
Damals in Venezuela führte sie ein kleines Charcuterie-Geschäft. Nachdem sie zum zweiten Mal ausgeraubt wurde, waren alle Investitionen futsch. Vor zwölf Jahren war sie mit Mann und Kindern erst nach Spanien ausgewandert, wo sich die Familie durch die ebenfalls schwierige wirtschaftliche Situation kämpfte, bis sie fünf Jahre später schliesslich in die Schweiz zog. Hier arbeitet Mariana García als Pflegehilfe.
Für den Frieden, gegen Maduro. Die Demonstranten solidarisieren sich mit den Protesten in Venezuela. (Bild: Michel Schultheiss)
Auch der Orchestermusiker Tomás (Name geändert) hat keine einfache Geschichte hinter sich. Die Meinung der beiden Maduro-Gegnerinnen teilt er dennoch nicht so dezidiert: «Ich bin weder auf der Seite der Chavisten noch bei der Opposition.» Tomás kehrte Venezuela vor über 15 Jahren den Rücken. Dreimal hatte er einen Pistolenlauf an der Schläfe und sein Vater wurde von einem Dieb angeschossen. Das war alles noch vor den Chávez-Zeiten.
Wegen seiner politischen Haltung werde er oft von beiden Seiten angefeindet, sagt er. Deshalb wolle er auch seinen richtigen Namen nicht nennen. Er misstraut den Oppositionsführern: «Probleme wie Korruption greifen tiefer», sagt Tomás dazu. Und überhaupt habe die aktuelle Krise eine lange Vorgeschichte, die weit vor die «Bolivarische Revolution» zurückreicht. Mit dem Chavismus, der in der meist mittelständischen Diaspora kaum Anhänger habe, kann er aber auch nichts anfangen. Mit seinem Vater, der aus einem armen «barrio» stammt und überzeugter «chavista» ist, habe er «immer wieder heftige Diskussionen».
Gespaltene Familien
Die Politik vermag in Venezuela Familien zu spalten. Auch das spüren die Menschen hier. Rita González Valerio, eine Kauffrau aus dem venezolanischen Barcelona, unterstützt ihre Familie. Ihr Bruder allerdings ist auf der Linie von Chávez. «In der Familie können wir nicht über Politik sprechen», sagt sie.
«Das Land ist total polarisiert», beobachtet auch ihre Kollegin Deyanira Ortiz, die seit sechs Jahren in Basel lebt. Ihr Vater ist Schuster in Caracas. Früher konnte er in der Werkstatt noch mehrere Leute anstellen, heute kaum mehr jemanden. «Der Mittelstand verarmt zusehends».
Anders als viele Landsleute hat die 22-jährige Fotografin und Studentin Giovanna León kaum ein anderes Venezuela als das der «Bolivarischen Revolution» gekannt. Sie ist im Bildungssystem unter Hugo Chávez gross geworden.
Vor zwei Jahren zog sie zusammen mit ihren Eltern in die Schweiz. Ihr Vater fand seinen Logistik-Job bei einer internationalen Firma. Fehlende Sicherheit und wenig Perspektiven – Verschiedenes trug dazu bei, dass sich die Familie im Ausland umschaute. «Wir verliessen Venezuela, weil uns die Umstände dazu zwangen.»